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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
Entstehung
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117
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Wissenschaft des Judentums 117

liches gelehrtes Gewand für Ideen, die eine Zeit vorberei­ten müssen, wo die rabbinische Literatur zu leben aufge­hört haben wird .» 163 Je stärker die Juden Europas sich akkulturieren, in den jeweiligen Landessprachen sich aus- drücken und ihre wissenschaftliche, politische und künst­lerische Kreativität in anderen Sprachen und Literaturen entfalten, desto unvermeidlicher naht das Ende der rabbi- nischen Literatur und desto dringlicher wird, nach dem Abschluß dieser Literatur, die verantwortliche wissen­schaftliche Darstellung derselben:

«Aber gerade weil wir zu unserer Zeit die Juden - um nur bei den deutschen stehen zu bleiben - mit grösserem Ernst zu der deutschen Sprache und der deutschen Bil­dung greifen und so - vielleicht ohne es zu wollen oder zu ahnen - die neuhebräische Literatur zu Grabe tragen se­hen, tritt die Wissenschaft auf und verlangt Rechenschaft von der geschlossenen. Jetzt, wo keine neue Erscheinung von Wichtigkeit so leicht unsere Uebersicht stören möchte, ... wo grössere Cultur eine lichtvollere Behand­lung erwarten lässt, und die hebräischen Bücher noch nicht so schwer zu haben sind als sie es vielleicht Anno 1919 sein werden; jetzt glauben wir, wird die Bearbeitung unserer Wissenschaft im grossen Stile eine Pflicht .» 164

Nachdem die Haskala die Rabbiner entmachtet und Er­folge bei der bürgerlichen Verbesserung der Juden erreicht hat, kann nun am Anfang eines neuen, aufgeklärteren und deshalb lichtvolleren Jahrhunderts die Wissenschaft «be­sonnen», ohne ideologischen Eifer und Zorn, eine abge­wogene und von weltanschaulicher Polemik freie Beurtei­lung der rabbinischen Literatur vornehmen, wie es sie nie vorher gab, weil die christlichen Gelehrten die rabbinische Literatur verachteten oder theologisch mißbrauchten und weil die Juden sie ihrer religiösen Bedeutung wegen nie kritisch untersuchten. Nachdem die jüdische Aufklärung abgeschlossen ist und ihre ideologischen Kämpfe beendet sind, kann die Wissenschaft, so Zunz, ein ausgewogenes Studium der Geschichte des jüdischen Volkes beginnen.