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Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud
für das eigene religiöse und moralische Urteil im Alltag anzuerkennen. Zunz betont die historische Bedeutung der rabbinischen Literatur für die jüdische Geschichte und drängt deswegen, nicht ihrer religiösen Bedeutung wegen, auf eine umfassende und zügige Erforschung. Denn er weiß, daß der Sieg von Haskala und Akkulturation der Juden an die deutsche und europäische Kultur so überwältigend ist, daß im Bewußtsein dieses Sieges der Augenblick gekommen ist, die eben weltanschaulich überwundene religiöse Literatur durch wissenschaftliche Erforschung und Dokumentation vor dem Verschwinden und Vergessen zu bewahren.
Zunz ist davon überzeugt, daß mit dem Sieg von Haskala, bürgerlicher Gleichberechtigung und Akkulturation der Juden in den Staaten Mitteleuropas das Ende des rabbinischen Judentums gekommen ist. Sein Programm zur Erforschung und erinnernden Rettung der rabbinischen Literatur trägt diesem Bewußtsein Rechnung: Im Moment ihres Endes soll die rabbinische Literatur durch die Wissenschaft vor dem Vergessen gerettet werden. Die Wissenschaft erforscht und konserviert sie als wichtiges Erbe der jüdischen Geschichte. Das fällt um so leichter, je weniger das Ansehen und die normative Autorität bestimmter Schriften der rabbinischen Literatur wie des Talmud die weltanschaulich neutrale Forschung behindern. Hier wird die Dialektik der Historisierung des Talmud durch die Maskilim offenbar: Die rabbinische Literatur und der Talmud gewinnen in dem Maße Anerkennung ihrer historischen Bedeutung, wie sie, normativ entmachtet, nur noch der Vergangenheit angehören.
Zunz sieht das Ende der rabbinischen, oder wie er sie auch nennt, der «neuhebräischen», d. h. der nachbiblischen Literatur für die nahe Zukunft voraus: 162 «Die rabbinische Literatur selbst sank in dem Maasse als die europäische sich hob und ihr die Juden sich anzuschliessen anfingen. Sogar was in dem letzten Jahrfunfzig jener noch angehört, hat von ihr die Sprache geliehen als ein zugäng-