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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
Entstehung
Seite
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Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud

für das eigene religiöse und moralische Urteil im Alltag anzuerkennen. Zunz betont die historische Bedeutung der rabbinischen Literatur für die jüdische Geschichte und drängt deswegen, nicht ihrer religiösen Bedeutung wegen, auf eine umfassende und zügige Erforschung. Denn er weiß, daß der Sieg von Haskala und Akkulturation der Juden an die deutsche und europäische Kultur so überwäl­tigend ist, daß im Bewußtsein dieses Sieges der Augen­blick gekommen ist, die eben weltanschaulich überwun­dene religiöse Literatur durch wissenschaftliche Erfor­schung und Dokumentation vor dem Verschwinden und Vergessen zu bewahren.

Zunz ist davon überzeugt, daß mit dem Sieg von Has­kala, bürgerlicher Gleichberechtigung und Akkulturation der Juden in den Staaten Mitteleuropas das Ende des rab­binischen Judentums gekommen ist. Sein Programm zur Erforschung und erinnernden Rettung der rabbinischen Literatur trägt diesem Bewußtsein Rechnung: Im Moment ihres Endes soll die rabbinische Literatur durch die Wis­senschaft vor dem Vergessen gerettet werden. Die Wissen­schaft erforscht und konserviert sie als wichtiges Erbe der jüdischen Geschichte. Das fällt um so leichter, je weniger das Ansehen und die normative Autorität bestimmter Schriften der rabbinischen Literatur wie des Talmud die weltanschaulich neutrale Forschung behindern. Hier wird die Dialektik der Historisierung des Talmud durch die Maskilim offenbar: Die rabbinische Literatur und der Tal­mud gewinnen in dem Maße Anerkennung ihrer histori­schen Bedeutung, wie sie, normativ entmachtet, nur noch der Vergangenheit angehören.

Zunz sieht das Ende der rabbinischen, oder wie er sie auch nennt, der «neuhebräischen», d. h. der nachbibli­schen Literatur für die nahe Zukunft voraus: 162 «Die rab­binische Literatur selbst sank in dem Maasse als die euro­päische sich hob und ihr die Juden sich anzuschliessen an­fingen. Sogar was in dem letzten Jahrfunfzig jener noch angehört, hat von ihr die Sprache geliehen als ein zugäng-