Wissenschaft des Judentums 115
daß einige der damals genannten Forschungsgebiete noch bis heute ihrer Erkundung harren.
Leopold Zunz war, wie sein Schulkamerad Isaak Markus Jost, Schüler der aufgeklärten Samsonschen Freischule in Wolfenbüttel gewesen 158 und ist zum Zeitpunkt des Erscheinens seiner Erstlingsschrift in Berlin Student von Friedrich August Wolf und August Boeckh . 159 Er verkörpert gleichsam die erste Generation eines ganz nach Maßstäben der Haskala an einer ihrer Musterschulen erzogenen, modernen Juden und ist insofern geradezu ein Produkt» der Haskala, von dem etwa ein Wessely nur hatte träumen können. Zunz weiß um den religiös-normativen Wert des Talmud und der ganzen rabbinischen Literatur für die frommen Kreise, aber sein Zugang ist, obwohl er sich in Berlin zeitweise auch als synagogaler Prediger versucht, ein rein historischer und philologischer.
So sehr hatte die Haskala die Normativität der rabbinischen Literatur erschüttert und den Weg für eine freie, objektivierende wissenschaftliche Betrachtungsweise derselben geebnet, daß Zunz sich schon um das Verschwinden der rabbinischen Literatur Sorgen machen kann und die eigene Stellung zur Normativität der rabbinischen Literatur, also auch des Talmud , 160 lapidar in einer einzigen kurzen Fußnote zusammenfassen kann: «Wir fürchten nicht, missverstanden zu werden. Hier wird die ganze Litteratur der Juden, in ihrem grössten. Umfange, als Gegenstand der Forschung aufgestellt, ohne uns darum zu kümmern, ob ihr sämmtlicher Inhalt auch Norm für unser eigenes Urtheilen sein soll oder kann .» 161
Während hier die Absage an die normative Geltung der rabbinischen Literatur auf eine kurze Fußnote zusammengeschmolzen ist, ist das Interesse an der Erforschung von Talmud und rabbinischer Literatur umgekehrt proportional angeschwollen. Die zukünftige Wissenschaft versteht unter rabbinischer Literatur «die ganze Litteratur der Juden» und macht damit den Talmud als Teil dieser Literatur zum Gegenstand der Forschung, ohne ihn als Norm