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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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Wissenschaft des Judentums 115

daß einige der damals genannten Forschungsgebiete noch bis heute ihrer Erkundung harren.

Leopold Zunz war, wie sein Schulkamerad Isaak Mar­kus Jost, Schüler der aufgeklärten Samsonschen Freischule in Wolfenbüttel gewesen 158 und ist zum Zeitpunkt des Er­scheinens seiner Erstlingsschrift in Berlin Student von Friedrich August Wolf und August Boeckh . 159 Er verkör­pert gleichsam die erste Generation eines ganz nach Maß­stäben der Haskala an einer ihrer Musterschulen erzoge­nen, modernen Juden und ist insofern geradezu ein Pro­dukt» der Haskala, von dem etwa ein Wessely nur hatte träumen können. Zunz weiß um den religiös-normativen Wert des Talmud und der ganzen rabbinischen Literatur für die frommen Kreise, aber sein Zugang ist, obwohl er sich in Berlin zeitweise auch als synagogaler Prediger ver­sucht, ein rein historischer und philologischer.

So sehr hatte die Haskala die Normativität der rabbini­schen Literatur erschüttert und den Weg für eine freie, ob­jektivierende wissenschaftliche Betrachtungsweise dersel­ben geebnet, daß Zunz sich schon um das Verschwinden der rabbinischen Literatur Sorgen machen kann und die eigene Stellung zur Normativität der rabbinischen Litera­tur, also auch des Talmud , 160 lapidar in einer einzigen kur­zen Fußnote zusammenfassen kann: «Wir fürchten nicht, missverstanden zu werden. Hier wird die ganze Litteratur der Juden, in ihrem grössten. Umfange, als Gegenstand der Forschung aufgestellt, ohne uns darum zu kümmern, ob ihr sämmtlicher Inhalt auch Norm für unser eigenes Urtheilen sein soll oder kann .» 161

Während hier die Absage an die normative Geltung der rabbinischen Literatur auf eine kurze Fußnote zusammen­geschmolzen ist, ist das Interesse an der Erforschung von Talmud und rabbinischer Literatur umgekehrt proportio­nal angeschwollen. Die zukünftige Wissenschaft versteht unter rabbinischer Literatur «die ganze Litteratur der Ju­den» und macht damit den Talmud als Teil dieser Litera­tur zum Gegenstand der Forschung, ohne ihn als Norm