122 Haskala und Kabbala
war aufs Ganze gesehen besser, als Graetz und Gleichgesinnte zugestehen möchten.
Mehr noch: Die Kabbala war für die jüdischen Aufklärer, anders als für die Aufklärer christlicher Herkunft, keine Geheimlehre. Kabbalistische Rituale und Praxis kannte jeder Jude, die wichtigsten Texte, Ideen und Lehren der Kabbala waren der gesamten männlichen jüdischen Bevölkerung zumindest vom Hörensagen bekannt. Wie David Friedländer in der oben zitierten Passage ganz richtig beschreibt, war die Kabbala, die aus okkulten jüdischen Traditionen der Spätantike hervorging, seit etwa 1200 den Namen «Kabbala», wörtlich: Überlieferung, als Selbstbezeichnung führte und als mystisch-esoterische Frömmigkeitsbewegung von Rabbinen für Rabbinen begann, 173 im 18. Jahrhundert in Europa längst so exoterisch geworden, daß kabbalistische Elemente in die alltäglichen Gebete, in Lieder, Gebetbücher und Folklore übernommen waren. 174 Der osteuropäische Chassidismus, nach Idee und Praxis eine stark von der Kabbala inspirierte Frömmigkeitsbewegung, entwickelte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts und wurde in Polen und der Ukraine zu einer wahren Massenbewegung. In Westeuropa wurde der Chassidismus nie heimisch, war jedoch schon durch die stetige Zuwanderung von osteuropäischen Juden bekannt. Kurz: Kabbala hatte für die jüdischen Aufklärer mit Esoterik nichts zu tun. Im Gegenteil, es war ein Problem für die jüdische Aufklärung, daß die Kabbala in Ost-, aber auch in Mitteleuropa so gut bekannt war. Beispielhaft dafür sind die Auseinandersetzungen und gegenseitigen Bannflüche in der Kontroverse zwischen Jacob Emden und Jonathan Eybeschütz in der Hamburger Dreiergemeinde 175 von 1750 bis 1764 und die Verbannung des Kabbalisten Nathan Adler und seiner Schüler aus der Frankfurter Gemeinde in den Jahren 1779 und 1789. 176 Haltungen und Strategien der jüdischen Aufklärer im Umgang mit der Kabbala sind gar nicht zu verstehen, wenn wir uns nicht deutlich machen, daß sowohl