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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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122 Haskala und Kabbala

war aufs Ganze gesehen besser, als Graetz und Gleichge­sinnte zugestehen möchten.

Mehr noch: Die Kabbala war für die jüdischen Aufklä­rer, anders als für die Aufklärer christlicher Herkunft, keine Geheimlehre. Kabbalistische Rituale und Praxis kannte jeder Jude, die wichtigsten Texte, Ideen und Leh­ren der Kabbala waren der gesamten männlichen jüdi­schen Bevölkerung zumindest vom Hörensagen bekannt. Wie David Friedländer in der oben zitierten Passage ganz richtig beschreibt, war die Kabbala, die aus okkulten jüdi­schen Traditionen der Spätantike hervorging, seit etwa 1200 den Namen «Kabbala», wörtlich: Überlieferung, als Selbstbezeichnung führte und als mystisch-esoterische Frömmigkeitsbewegung von Rabbinen für Rabbinen be­gann, 173 im 18. Jahrhundert in Europa längst so exote­risch geworden, daß kabbalistische Elemente in die all­täglichen Gebete, in Lieder, Gebetbücher und Folklore übernommen waren. 174 Der osteuropäische Chassidismus, nach Idee und Praxis eine stark von der Kabbala inspi­rierte Frömmigkeitsbewegung, entwickelte sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts und wurde in Polen und der Ukraine zu einer wahren Massenbewegung. In Westeu­ropa wurde der Chassidismus nie heimisch, war jedoch schon durch die stetige Zuwanderung von osteuropäi­schen Juden bekannt. Kurz: Kabbala hatte für die jüdi­schen Aufklärer mit Esoterik nichts zu tun. Im Gegenteil, es war ein Problem für die jüdische Aufklärung, daß die Kabbala in Ost-, aber auch in Mitteleuropa so gut be­kannt war. Beispielhaft dafür sind die Auseinandersetzun­gen und gegenseitigen Bannflüche in der Kontroverse zwi­schen Jacob Emden und Jonathan Eybeschütz in der Hamburger Dreiergemeinde 175 von 1750 bis 1764 und die Verbannung des Kabbalisten Nathan Adler und seiner Schüler aus der Frankfurter Gemeinde in den Jahren 1779 und 1789. 176 Haltungen und Strategien der jüdischen Auf­klärer im Umgang mit der Kabbala sind gar nicht zu ver­stehen, wenn wir uns nicht deutlich machen, daß sowohl