124 Haskala und Kabbala
Wenn wir nun wissen wollen, was die Maskilim von der Kabbala dachten, können wir uns nicht an heutige Darstellungen der Kabbala halten. 182 Ein Bild der Kabbala aus der Perspektive der jüdischen Aufklärung vermittelt die nachgerade klassische Beschreibung der Kabbala in Salomon Maimons Lebensgeschichte (1792/93), die trotz aller ironischen Distanz in sachlich korrekter und durch unseren heutigen Wissensstand bestätigter Weise erklärt, was Kabbala überhaupt ist und will. Salomon Maimon, der selbst in Litauen Rabbiner war und Kabbala lernte, bevor er in die Berliner Aufklärung emigrierte, schreibt:
«Kabbala - um von dieser göttlichen Wissenschaft ausführlicher zu reden - im weitern Sinn heißt Überlieferung und begreift nicht nur die geheimen Wissenschaften, die nicht öffentlich gelehrt werden dürfen, sondern auch die Methode, aus den in der Heiligen Schrift vorkommenden Gesetzen neue Gesetze herzuleiten, wie auch einige Fundamentalgesetze, die dem Moses auf dem Berg Sinai mündlich überliefert worden sein sollen. Im engern Sinn aber heißt Kabbala bloß die Überlieferung geheimer Wissenschaften. Diese wird in theoretische und praktische Kabbala eingeteilt. Jene [die theoretische Kabbala] begreift in sich die Lehre von Gott, seinen Eigenschaften, die durch seine mannigfaltigen Namen ausgedrückt werden, die Entstehung der Welt durch eine stufenweise Einschränkung seiner unendlichen Vollkommenheit und das Verhältnis aller Dinge zu seinem höchsten Wesen. Diese [die praktische Kabbala] ist die Lehre, durch die mannigfaltigen Namen Gottes, die besondere Wirkungsarten und Beziehungen auf die Gegenstände der Natur vorstellen, nach Belieben auf sie [die Natur] zu wirken. Diese heiligen Namen werden nicht als bloß willkürliche Zeichen betrachtet, so daß alles, was mit diesen Zeichen vorgenommen wird, auf die Gegenstände selbst, die sie vorstellen, Einfluß haben muß.» 183
Die Kabbala ist für Maimon «eine göttliche Wissenschaft», denn sie befaßt sich mit Gottesattributen und mit