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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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180 Die politische Philosophie der Haskala

Ferner befürwortet er in bis dahin nicht gekannter Ra­dikalität die strenge Trennung von Staat und Religion, die Abschaffung aller staatlichen Privilegien für die Angehöri­gen einer Staatskirche und die volle Gewissens- und Mei­nungsfreiheit der Gläubigen in Kirche und Synagoge ohne jede Drohung von Ausschluß, Bann oder anderen Sanktio­nen. Ein Bannrecht der Rabbiner, um einen mißliebigen oder nicht mehr ganz rechtgläubigen Juden aus der jüdi­schen Gemeinde auszuschließen, erkennt Mendelssohn nicht an. Damit spricht er ausdrücklich den Rabbinern einen Teil ihrer religiösen, moralischen, rechtlichen und auch politischen Autorität ab.

Im gleichen Atemzug wehrte Mendelssohn eine von der christlichen Obrigkeit den Juden aufgezwungene Verände­rung ihrer Religion oder auch nur von Teilen derselben strikt ab: Er selbst vertrat und lebte eine strikte Obser­vanz gegenüber der Halacha, dem Kanon der traditionel­len jüdischen Religionsgesetze, die für ihn als unveränder­liche, weil göttlich «geoffenbarte Gesetzgebung» für alle Juden galten. Während indessen seine Argumente für die Religions- und Gewissensfreiheit der Juden gegen die Ver­änderungswünsche der christlichen Obrigkeit naturrecht­lich gut begründbar sind, hat Mendelssohn innerjüdisch keine philosophischen Argumente für die von ihm gefor­derte halachische Observanz.

Die naturrechtliche Argumentation Mendelssohns bringt ihn in ein Dilemma: Seine gegen Dohm gerichtete Aufforderung in dieser Debatte, niemals die halachische Observanz der in Aussicht gestellten bürgerlichen Verbes­serung und rechtlichen Gleichstellung zu opfern, basiert auf einer naturrechtlichen Argumentation für die indivi­duelle Gewissens- und Religionsfreiheit, die der Staat nicht beugen dürfe. Zugleich setzt jedoch Mendelssohn die Gewissensfreiheit in seiner Argumentation gegen die Zwangsrechte des Staates so absolut an, daß er auch den Rabbinern das Recht bestreitet, die Gewissensfreiheit ein­zuschränken. Indem er ihnen das Bannrecht abspricht,