180 Die politische Philosophie der Haskala
Ferner befürwortet er in bis dahin nicht gekannter Radikalität die strenge Trennung von Staat und Religion, die Abschaffung aller staatlichen Privilegien für die Angehörigen einer Staatskirche und die volle Gewissens- und Meinungsfreiheit der Gläubigen in Kirche und Synagoge ohne jede Drohung von Ausschluß, Bann oder anderen Sanktionen. Ein Bannrecht der Rabbiner, um einen mißliebigen oder nicht mehr ganz rechtgläubigen Juden aus der jüdischen Gemeinde auszuschließen, erkennt Mendelssohn nicht an. Damit spricht er ausdrücklich den Rabbinern einen Teil ihrer religiösen, moralischen, rechtlichen und auch politischen Autorität ab.
Im gleichen Atemzug wehrte Mendelssohn eine von der christlichen Obrigkeit den Juden aufgezwungene Veränderung ihrer Religion oder auch nur von Teilen derselben strikt ab: Er selbst vertrat und lebte eine strikte Observanz gegenüber der Halacha, dem Kanon der traditionellen jüdischen Religionsgesetze, die für ihn als unveränderliche, weil göttlich «geoffenbarte Gesetzgebung» für alle Juden galten. Während indessen seine Argumente für die Religions- und Gewissensfreiheit der Juden gegen die Veränderungswünsche der christlichen Obrigkeit naturrechtlich gut begründbar sind, hat Mendelssohn innerjüdisch keine philosophischen Argumente für die von ihm geforderte halachische Observanz.
Die naturrechtliche Argumentation Mendelssohns bringt ihn in ein Dilemma: Seine gegen Dohm gerichtete Aufforderung in dieser Debatte, niemals die halachische Observanz der in Aussicht gestellten bürgerlichen Verbesserung und rechtlichen Gleichstellung zu opfern, basiert auf einer naturrechtlichen Argumentation für die individuelle Gewissens- und Religionsfreiheit, die der Staat nicht beugen dürfe. Zugleich setzt jedoch Mendelssohn die Gewissensfreiheit in seiner Argumentation gegen die Zwangsrechte des Staates so absolut an, daß er auch den Rabbinern das Recht bestreitet, die Gewissensfreiheit einzuschränken. Indem er ihnen das Bannrecht abspricht,