VIII. Die Erfindung der Orthodoxie
Im Jahr 1792 veröffentlichte ein unbekannter jüdischer Autor namens Saul Ascher in Berlin ein Buch mit dem Titel Leviathan oder Heber Religion in Rücksicht des Judenthums. Unverdientermaßen ist auch dieses Buch bis heute relativ unbekannt geblieben, obwohl sein Autor später als antinationalistischer politischer Publizist ein bekanntes Haßobjekt der deutschen Burschenschaften wurde. Es ist, wie sein von Thomas Hobbes entliehener Titel Leviathan verrät, ein theologisch-politischer Traktat. 283 Das Buch enthält sowohl eine Philosophie des Judentums als auch eine Art politische Theologie. Und wäre sein Autor ein ähnlich berühmter und vorbildlicher Mas- kil geworden wie Moses Mendelssohn, Aschers Leviathan würde heute stets neben Mendelssohns Jerusalem als wichtigster Entwurf einer Philosophie des Judentums 284 aus der Generation nach Mendelssohn genannt werden. Denn Aschers Leviathan ist die erste von Kant geprägte Philosophie des Judentums überhaupt.
Als Ascher 1792 seinen Leviathan veröffentlichte, war er erst 25 Jahre alt, ein junger und deshalb nicht viel gelesener Unbekannter, ein unbeschriebenes Blatt ohne Autorität und Leser. Sein im Leviathan erstmals erhobener Ruf nach einer «Reformation», 285 also sein Gedanke einer religiösen Reform des Judentums wurde in Deutschland erst nach den Napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongreß von Rabbinern wie Samuel Holdheim und Abraham Geiger wieder aufgegriffen, als sich die historischen Ausgangsbedingungen und damit die Veränderungsmöglichkeiten grundlegend geändert hatten. Mit Holdheim und Geiger gilt Ascher darum als einer der Vorläufer und ersten Theoretiker des progressiven oder Reform-Judentums