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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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200 Jüdischer Sokrates und jüdischer Diogenes

Gegner wie Lavater wird also die Parallele von Mendels­sohn und Sokrates hergestellt.

Mendelssohn hat das Ansinnen Lavaters zurückgewie­sen und sich geweigert, Religionssachen überhaupt öffent­lich zu disputieren. Er habe seine Religion seit frühester Jugend und auch als Philosoph geprüft und keinen Anlaß gehabt, ihr den Rücken zu kehren. Die jüdische Religion kenne keine Mission Andersgläubiger, ihre Gesetze gelten nur für Juden, sie erkenne aber die Gerechten und Tu­gendhaften aller Völker an und halte sie des ewigen Heils fähig. Als Philosoph und Bürger, so schreibt Mendelssohn in seiner öffentlichen Entgegnung an Lavater , 314 solle man durch Tugend überzeugen und nur von solchen Wahrhei­ten sprechen, die allen Religionen gemeinsam sind. Er­kenntnis und Tugend unter seinen Nebenmenschen auszu­breiten, ist die «natürliche Verbindlichkeit» jedes Sterb­lichen, nicht andere zu bekehren. Mendelssohn will darum öffentlich nur solche Haltungen und Überzeugun­gen bekämpfen, die, wie Fanatismus, Menschenhaß, Ver­folgungsgeist, Leichtsinn, Üppigkeit oder unsittliche Frei­geisterei, die Ruhe und Zufriedenheit des Gemeinwesens stören. Religiöse Überzeugungen, die dies nicht tun, selbst wenn sie nach seiner Ansicht irrig sind, kann man hinge­gen schweigend hinnehmen, wenn sie weder die natürliche Religion noch das natürliche Gesetz unmittelbar zugrunde richten . 315

Diese abweisenden Sätze gegen Lavater sind für Men­delssohn Programm seiner Philosophie und seiner Stellung im öffentlichen Leben nicht nur Berlins geblieben: Men­delssohn war die Verkörperung des Philosophen als Bür­ger. Gesetze und Gemeinwohl, allgemeine Wahrheiten und bürgerliche Tugenden waren theoretisch und im All­tagsleben feste ßezugsgrößen seiner Existenz. Selbst wenn, und auch hierin ist er Sokrates ähnlich, der Staat und die Polis an ihm Unrecht tun, wahrt er seine Unschuld, seine Contenance und seinen Humor . 316 Und das, obwohl er in Berlin, anders als der Athener Sokrates, nie Bürgerrechte