200 Jüdischer Sokrates und jüdischer Diogenes
Gegner wie Lavater wird also die Parallele von Mendelssohn und Sokrates hergestellt.
Mendelssohn hat das Ansinnen Lavaters zurückgewiesen und sich geweigert, Religionssachen überhaupt öffentlich zu disputieren. Er habe seine Religion seit frühester Jugend und auch als Philosoph geprüft und keinen Anlaß gehabt, ihr den Rücken zu kehren. Die jüdische Religion kenne keine Mission Andersgläubiger, ihre Gesetze gelten nur für Juden, sie erkenne aber die Gerechten und Tugendhaften aller Völker an und halte sie des ewigen Heils fähig. Als Philosoph und Bürger, so schreibt Mendelssohn in seiner öffentlichen Entgegnung an Lavater , 314 solle man durch Tugend überzeugen und nur von solchen Wahrheiten sprechen, die allen Religionen gemeinsam sind. Erkenntnis und Tugend unter seinen Nebenmenschen auszubreiten, ist die «natürliche Verbindlichkeit» jedes Sterblichen, nicht andere zu bekehren. Mendelssohn will darum öffentlich nur solche Haltungen und Überzeugungen bekämpfen, die, wie Fanatismus, Menschenhaß, Verfolgungsgeist, Leichtsinn, Üppigkeit oder unsittliche Freigeisterei, die Ruhe und Zufriedenheit des Gemeinwesens stören. Religiöse Überzeugungen, die dies nicht tun, selbst wenn sie nach seiner Ansicht irrig sind, kann man hingegen schweigend hinnehmen, wenn sie weder die natürliche Religion noch das natürliche Gesetz unmittelbar zugrunde richten . 315
Diese abweisenden Sätze gegen Lavater sind für Mendelssohn Programm seiner Philosophie und seiner Stellung im öffentlichen Leben nicht nur Berlins geblieben: Mendelssohn war die Verkörperung des Philosophen als Bürger. Gesetze und Gemeinwohl, allgemeine Wahrheiten und bürgerliche Tugenden waren theoretisch und im Alltagsleben feste ßezugsgrößen seiner Existenz. Selbst wenn, und auch hierin ist er Sokrates ähnlich, der Staat und die Polis an ihm Unrecht tun, wahrt er seine Unschuld, seine Contenance und seinen Humor . 316 Und das, obwohl er in Berlin, anders als der Athener Sokrates, nie Bürgerrechte