Druckschrift 
Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
Entstehung
Seite
201
Einzelbild herunterladen

Der Mendelssohn-Mythos und der Sokrates Platons 201

besaß. 317 Die anerkannte Existenz als Bürger und Philo­soph war zeitlebens Mendelssohns Ideal und Bezugsrah­men seines Denkens, trotz der alltäglichen Diskriminie­rung als Jude in Berlin. Mendelssohn wünschte sich, wie er schreibt, in ein Vaterland geboren zu sein, «wo ich Socrates zum Muster und Leßing zum Freunde haben könnte». 318

Der Ausgang der sogenannten Lavater-Affäre ist be­kannt: Lavater mußte angesichts harscher öffentlicher Kri­tik sein Bekehrungsansinnen zurücknehmen. Dagegen hat der überlegene, höfliche und zugleich selbstbewußte Um­gang mit Lavaters Attacke Mendelssohns Ruf als weiser Nachkomme des Sokrates bei den Zeitgenossen insgesamt nur gestärkt. Bis zu seinem Tod wuchs dieser Ruf bestän­dig. Davon legen noch die Nachrufe, Biographien, Epita­phe und Eulogien anläßlich seines Todes Zeugnis ab. 319 Der Vergleich mit Sokrates ist dort häufiger als der gewiß ehrenvolle Vergleich mit dem Nathan des Lessing, in dem schließlich die gesamte deutsche Spätaufklärung eine Ver­körperung Mendelssohns sah. So stellt z. B. der Freimau­rer und Jurist Friedrich Wilhelm von Schütz 1787 Men­delssohn in eine Reihe mit Sokrates und Platon: «Sokrates und Plato, und unter uns Deutschen Mendelssohn, diese Männer sind es, die sich in ihren Ideen am weitesten er­hoben haben.» 320 Und auch die Mode der Zeit, Mendels­sohn eine Büste zu widmen, zeigt nicht nur dessen hohe Popularität an, sondern stellt sogar ikonographisch eine direkte Parallele zu den berühmten Büsten antiker Philo­sophen her, unter denen die des Sokrates nie fehlte. 321

Der Sokrates, mit dem Mendelssohn verglichen wird, ist der idealisiert gezeichnete des Platon, nicht der Sokra­tes des Xenophon, des Aristophanes oder des Diogenes Laertius, die ein wesentlich kritischeres, oft spöttisches Bild des Sokrates zeichnen. 322 Dennoch sind die Verglei­che von Mendelssohn mit Sokrates bei den jüdischen und christlichen Zeitgenossen des Philosophen so zahlreich, daß sich zeigen läßt, daß diese Beschreibungen sich nicht