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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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202 Jüdischer Sokrates und jüdischer Diogenes

allein einer postumen Idealisierung Mendelssohns durch die Entstehung eines Mendelssohn-Mythos verdanken, sondern tatsächlich auch einen sachlichen Grund in seiner Philosophie und eine Berechtigung aufgrund seiner per­sönlichen Haltung besitzen.

2. Sokrates von Berlin

Obwohl viele Vertreter der jüdischen Aufklärung, und dies besonders in den hebräischen Texten, die ausdrück­liche Bezugnahme auf die pagane griechische Philosophie scheuten, um die frommen jüdischen Traditionalisten nicht von der Aufklärung abzuschrecken, haben weder Mendelssohn selbst noch seine Freunde und Schüler den Vergleich mit Sokrates jemals dementiert. Im Gegenteil: Es ist evident, daß Mendelssohn sich mit seinem Phaedon selbst in die platonische Tradition stellt. Wahl des Titels und des Gegenstands, aber auch die dialogische Form des Phaedon ebenso wie anderer früher Schriften Mendels­sohns lehnen sich an die sokratische Art des Philosophie- rens an. Dem Phaedon schickte Mendelssohn eine aus­führliche positive Würdigung mit dem Titel «Leben und Charakter des Sokrates» voraus, die sich an John Gilbert Coopers The Life of Socrates (1749) anlehnt und in dem Mendelssohn Sokrates als philosophisches Vorbild dar­stellt. Während in Potsdam mit Friedrich II. ein Monarch regierte, der sich nach dem Modell der Politeia Platons als Philosophenkönig präsentierte, entwarf Mendelssohn sei­nen Sokrates als Bürger und bürgerliches Vorbild: Wie den Aufklärern sei es Sokrates einzig um die «Glückselig­keit des menschlichen Geschlechts» gegangen, und er habe sich darum bis in die äußerste Konsequenz dem Vorurteil und der Gewalttätigkeit, dem Rechtsbruch und der Ver­derbnis der Sitten entgegengestemmt. In dieser Charakte­ristik scheinen gleichzeitig auch Themen auf, die der jüdi­schen Aufklärung wichtig waren oder wurden: Sokrates