Sokrates von Berlin 203
als «Hausvater», der gut für seine Kinder und die «Hausmutter» sorgt, Sokrates als tapferer Soldat wie alle anderen Bürger, als Kämpfer wider den Aberglauben und als trotz Lebensgefahr und Benachteiligung aufrechter Lehrer der bürgerlichen Tugenden.
Die Beweise für die Unsterblichkeit der Seele in Mendelssohns Phaedoti 323 sind andere als die des Sokrates in Platons Phaidon, aber die Ergebnisse, die Unsterblichkeit der Seele als eine ewige Vernunftwahrheit der Philosophie, gleichen sich: Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ermöglicht es dem Philosophen, gefaßt und gesetzestreu zu leben und unbedrängt von Angst oder körperlichen Bedürfnissen zu sterben. Sie ist beim Athener Sokrates und beim Berliner Sokrates eine gemeinsame Grundvoraussetzung von Philosophie und Leben.
Wie der Athener Sokrates den Gesetzen der Polis gemäß sogar den Schierlingsbecher trinkt, obwohl er, wie Platons Apologie schildert, um seine eigene Unschuld und um die Ungerechtigkeit der Obrigkeit weiß, so ist der Berliner Sokrates selbst in seinem Kampf gegen die Diskriminierung der Juden und für ihre bürgerliche Verbesserung noch in höchster Bedrängnis ein gehorsamer Untertan des preußischen Königs, obwohl dieser seine Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften verhindert hat. Als Friedrich II. ihn 1771 an einem Sabbat nach Potsdam befohlen hatte, besorgte sich Mendelssohn eine Ausnahmegenehmigung des Berliner Rabbinats, um än diesem Tage reisen zu können. 324 Wie der Athener Bürger Sokrates ist Mendelssohn den Gesetzen der Stadt und des Staates treu, obwohl er als Jude diskriminiert war und in Berlin nicht einmal Bürgerrechte genoß. Darüber hinaus jedoch ist Mendelssohn auch den Geboten der Väter, den Mizwot der religiösen jüdischen Tradition, treu. Er bleibt zeitlebens ein obser- vanter Jude, der, das bezeugt sein rechtsphilosophisches Hauptwerk Jerusalem, eher auf die bürgerliche Verbesserung der Juden verzichten würde, als die jüdischen Gebote z u ändern und der Halacha untreu zu werden. 325