204 Jüdischer Sokrates und jüdischer Diogenes
Neben der Unsterblichkeitslehre und der Gesetzestreue sind die Wahrheits- und die Friedensliebe, die Abneigung gegen Fanatismus und Extremismus, das Interesse am Gemeinwohl im Staat als Voraussetzung des Glücks aller, das Beharren auf der individuellen Gesinnungs- und Gewissensfreiheit, die stete Dialogbereitschaft gegenüber Freunden, die Scharfsinnigkeit ebenso wie die Höflichkeit gegenüber Gegnern und die Lehrtätigkeit gegenüber Jüngeren Charakterzüge, die alle Zeitzeugen und Biographen Mendelssohns betonen. Von der großen Wohltätigkeit Mendelssohns wird ebenso berichtet wie von seiner Ausgeglichenheit und Freundlichkeit, die sich auch durch Provokationen nicht stören ließ. Ein Inbild der Humanität, Toleranz und weisen Gelassenheit, ließ sich der körperlich gebrechliche und physisch bedürfnislos wirkende Berliner Sokrates nicht aus der Besonnenheit des Weltweisen lok- ken und reagierte mit Humor auf Attacken und Widrigkeiten. Nicht zuletzt vereinte sich bei Mendelssohn <so- kratische> Ironie und Selbstironie mit jüdischem Witz. Diese Charakteristika finden sich sowohl in den Werken wie in zahllosen Anekdoten über das öffentliche Wirken Mendelssohns und legten den Vergleich mit dem Sokrates des Platon nahe . 326
Wirkung und Nachwirkung des Bildes von Mendelssohn als Berliner Sokrates waren so groß, daß er ohne Übertreibung als das Rollenmodell eines jüdischen Aufklärers bezeichnet werden kann. Sowohl die deutsche Spätaufklärung als auch die jüdische Aufklärungsbewegung hatte in Mendelssohn den Inbegriff und das Vorbild des weisen jüdischen Aufklärers und des jüdischen Philosophen als angesehenen Bürgers. Mendelssohn war sozusagen der aufgeklärte Musterjude, der jüdische Sokrates von Berlin. Selbst die Antisemiten und Autoren mit ausgeprägt antijüdischen Vorurteilen wie Daniel Jenisch akzeptierten dieses Bild von Mendelssohn und erklärten ihn zur Ausnahme von der Regel: Indem der jüdische Sokrates zur Ausnahmeerscheinung erklärt wurde, ließen sich an-