IX. Jüdischer Sokrates und jüdischer Diogenes
i. Der Mendelssohn-Mythos und der Sokrates Platons
«Es ist wahrlich nicht zuviel von ihm gesagt, daß er der Sokrates seines Zeitalters war», hat Karl Philipp Moritz 1786 kurz nach dem Tod von Mendelssohn über diesen gesagt. 311 Moritz, der engen Umgang mit Mendelssohn gepflegt hatte, gibt mit diesem Wort die Einschätzung der meisten Zeitgenossen wieder, der jüdischen ebenso wie der christlichen. Dies bezeugen die Nachrufe und Biographien, die nach 1786 erschienen. Und fast immer wird dieser Ruf mit Mendelssohns populärstem und meistverkauftem Werk in Verbindung gebracht, dem Buch Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele, das 1767 im Verlag von Friedrich Nicolai in Berlin erschienen war und danach noch viele Auflagen und Übersetzungen erfuhr. Die Unsterblichkeit der Seele war das Thema zahlreicher Abhandlungen in der deutschen Aufklärung, 312 und unter diesen war keine erfolgreicher als diejenige Mendelssohns.
Tatsächlich hatte sich Mendelssohn durch Wahl von Titel und Thematik des Phaedon selbst in die Tradition des Sokrates und des sokratischen Philosophierens gestellt. Die Zeitgenossen haben diese erfolgreiche Selbst- Positionierung so entgegenkommend aufgenommen, daß sogar Lavater, als er 1769 Mendelssohn zur Taufe aufforderte, in seiner gedruckten Zueignung an denselben schrieb, er solle tun, «was Socrates gethan hätte», 313 wenn er die Argumente von Bonnets Untersuchung der beweise für das Christentbum nicht hätte widerlegen können: nämlich sich taufen lassen. Noch in der skandal- trächtigen Zumutung des Bekehrungsansinnens bei einem