Mendelssohn, Maimon und die Haskala 219
weniger ideologisch als vielmehr in seiner un- bzw. antibürgerlichen Lebensweise von den anderen Maskilim. Das machte ihn zu einem Außenseiter, aber schloß die gelegentliche Teilnahme an Projekten und Diskursen der Haskala von Berlin nicht aus. Denn die Haskala war nie eine weltanschaulich homogene Gruppe mit festgelegten Kriterien der Zugehörigkeit. Vielmehr ähnelte sie jenem merkwürdigen Athener Sozialgebilde zu Beginn der okziden- talen Philosophie, als die Sophisten, Sokrates, Platon und seine Schüler, der junge Aristoteles und eben auch Diogenes in einer Stadt einen heterogenen Diskurs widerstreitender Theorien und politischer Optionen entfachten, den wir erst in der Rückschau als die Geburt der Philosophie würdigen können. Dort begannen sich Denker als «Philosophen» zu bezeichnen und an Philosophen zu wenden, ohne daß schon klar gewesen wäre, was das eigentlich sei und wer das zu bestimmen habe. Ähnlich verhielt es sich in der Haskala in Berlin, wo sich seit 1783 jüdische Intellektuelle als «Maskilim» bezeichneten und an andere «Maskilim» ihre Schriften und Broschüren adressierten, 372 ohne daß je schon fest definiert war, was man darunter zu verstehen habe.
Die durch Mendelssohn verkörperte jüdische Bürgerlichkeit war gegenüber der Unbürgerlichkeit Maimons die sozial erfolgreichere Variante von Haskala: Die jüdische Aufklärungsbewegung war der Beginn der bürgerlichen Akkulturation von Juden auf'breiter Basis und in allen Lebensbereichen. Die Schriften der Haskala sind Antrieb, Reflexion und Ideologie dieses Prozesses. Die von der Haskala geforderte und geförderte bürgerliche Aufklärung und Selbstaufklärung von Juden markiert den Eintritt des Judentums in die Moderne. Die jüdische Aufklärung hat un deutschsprachigen Judentum eine bürgerliche Entwicklung eröffnet, deren soziokultureller Erfolg und Glanz in der ganzen jüdischen Geschichte nur wenige Parallelen hat. Diese Epoche endete 1933.