Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
9
Einzelbild herunterladen

Vorwort

9

Vorwort

Eine Psychopathologie des Fin de siècle. Nicht mehr und nicht we­niger. Die Psychopathologie einer ganzen Epoche. Man stelle sich vor, ein bekannter jüdischer Journalist mit osteuropäischer Her­kunft, deutscher Zunge und Pariser Wohnsitz erklärte praktisch die gesamte Avantgarde-Literatur unseres Fin de siede für verrückt und wollte ihre Autoren am liebsten in die Psychiatrie verfrachten. Ein Mann mit Figur, Aussehen und Streitlust von Henryk Broder gemischt mit den schroffen, apodiktischen Urteilen eines literari­schen Praeceptor Germaniae wie Marcel Reich-Ranicki, obendrein berühmter als beide zusammen. Man stelle sich den Aufschrei vor, der durch das Feuilleton und das Fernsehen hallen würde, die schrillen antisemitischen Töne wie jüngst bei Goldhagen inklusive.

Diese Vorstellung könnte uns heute vielleicht eine entfernte Ahnung von der Wirkung vermitteln, die Max Nordau mit den bei­den Bänden seines Hauptwerks Entartung, erschienen 1892/93, erzielte. Mit Entartung wurde Nordau, der heute fast vergessen ist, endgültig eine europäische Berühmtheit, ein Autor, der bis zum Ersten Weltkrieg eine feste Größe in den Feuilletons der bekann­testen Zeitungen Europas und Nordamerikas ist. Nordau, der un­gläubige Jude aus Pest, lebte und arbeitete über 40 Jahre lang als Journalist und Arzt in Paris, der bedeutendsten europäischen Kul­turmetropole des Fin de siede und der Hauptstadt der fortgeschrit­tensten Republik Europas. Er schrieb deutsch für ein deutsches Pu­blikum, aber seine Bücher waren Bestseller und wurden innerhalb weniger Jahre in über ein Dutzend europäische Sprachen übersetzt. Er war Kulturkritiker, bevor es die Instanz des Kulturkritikers über-