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Vorwort
haupt gab, und Intellektueller, für den und für dessen Mitstreiter der Begrff »Intellektueller« während der Dreyfus-Affäre von den Antisemiten allererst als Schimpfwort geprägt wurde.
Nordau war nicht nur sozusagen einer der Erfinder der modernen Kulturkritik, er war der erste Kulturkritiker, der konkret die Werke der gesamten Literatur und Kunst des Fin de siede auf dem neuesten Stand, aus der Perspektive und mit den Mitteln der zeitgenössischen Psychopathologie untersuchte. Der Kulturkritiker wurde so zum Arzt der Kultur. Daß seine Diagnose so katastrophal ausfiel, daß gleich fast das ganze Fin de siede und solche heute berühmten und nachgerade >kanonischen modernen Autoren wie Baudelaire, Verlaine, Mallarme, Flaubert, Zola, Wagner, Nietzsche, Ibsen, Wilde, Tolstoi und andere anhand ihrer Werke als Geisteskranke bezeichnet werden, zeigt die gefährliche und auch unsinnige Seite von Nordaus Innovation: Neu ist, daß man Kultur, ihr Bewußtes und Unbewußtes nun auch aus psychopathologischer Sicht kritisiert; gefährlich, übertrieben und bisweilen lächerlich ist, wenn man die Kultur und ihre Epoche allein dadurch umfassend pathologisiert.
Wer aber war jener damals so berühmte Max Nordau? In seinen Büchern und unzähligen Zeitungsartikeln zeigt er sich uns als ein Freidenker ohne Amt und Stand, ein Mittler zwischen den Sphären von Wissenschaft und Literatur, zwischen Kunst, Medizin und Politik. Einer, der tout Paris kannte, dazu Wien und Berlin, die Künstler, die Politiker und die Wissenschaftler, aber nirgends dazugehörte. Und als ein Jude, der sein Judesein und seine ärmliche Herkunft jahrzehntelang loswerden wollte und verschwieg, bevor er unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre einer der Gründerväter und Vordenker des modernen Zionismus wurde. Über die Person Nordau gab es lediglich einige Arbeiten, die sein ganzes Leben aus der Sicht seines Engagements und seiner Bedeutung für den Zionismus schilderten und damit vereinseitigten.
Das war die Situation, als ich 1988 begann, in Jerusalem in seinem Nachlaß zu forschen. Die Funde an unpubliziertem Material von und über Nordau, die ich dort im Zionistischen Zentralarchiv und in der Hebräischen National- und Universitätsbibliothek machte, waren so vielfältig, daß ich den ursprünglichen Plan ändern mußte, eine Intellektuellen-Biographie Nordaus zu schreiben, die ihren