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Jugendjahre in Pest
landskorrespondenten der Berliner Vossischen Zeitung, Max Nordau, das gesamte Programm bürgerlicher Gleichberechtigung der Juden in den Staaten Europas. Und das nicht in irgendeiner reaktionären Monarchie, sondern in der fortgeschrittensten Republik des Kontinents. 7 In Frankreich, in Paris, der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (Walter Benjamin), wird dieser französische Generalstabsoffizier in aller Öffentlichkeit, auf der Straße und in den Zeitungen als Jude beschimpft. Als er in einem Militärprozeß wegen angeblicher, mit Hilfe gefälschter Dokumente vorgetäuschter Spionage für den > Erbfeind* Deutschland (das Urteil wurde erst nach Jahren aufgehoben) und nach einer beispiellosen antisemitischen Pressekampagne verurteilt, degradiert und deportiert wird, schreit der Mob in den Straßen: »A mort les juifs.« 8
Für Nordau ist der Fall Dreyfus das Paradigma des Scheitems sowohl jüdischer Emanzipation als auch Assimilation 9 durch den Antisemitismus. Ausschlaggebend ist für ihn nicht so sehr seine feste Überzeugung von der Unschuld Dreyfus’ als vielmehr der offene Antisemitismus, dessen Manifestationen die jahrelangen Prozeßverfahren begleiteten. Er schließt sich Herzls Forderung nach einem Judenstaat an: Die Antisemiten werden die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden in Europa niemals akzeptieren, auch nicht, wenn diese sich als Juden - wie Nordau selbst - total verleugnen oder aufgeben. Die Juden brauchen einen eigenen Staat.
Der Antisemitismus, Nordau bekennt es in Meine Selbstbiographie ausdrücklich, hat ihn zum Zionisten gemacht. Der Antisemitismus war die Ursache, die Affäre Dreyfus war der Anlaß seiner Kehrtwendung von der Assimilation zum Zionismus. » Erst das Anwachsen des Antisemitismus weckte in mir das Bewußtsein meiner
7 Vgl. zur europäischen Wirkung der Dreyfus-Affäre: Julius H. Schoeps/H. Simon (Hg.), Dreyfus und die Folgen, Berlin 1995.
8 Vgl. Joseph Reinach, Histoire de l’affaire Dreyfus, Paris: Editions de la Revue Blanche, 6 Bde. Paris 1901-1908 (Reinach war übrigens ein Pariser Bekannter Nordaus); für den neueren Forschungsstand s. Jean Denis Bredin, L’Affaire, Paris 1985.
9 Ich gebrauche hier das Wort Assimilation, weil es Herzl und Nordau auch ganz selbstverständlich gebraucht haben. Im heutigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch sind wegen der negativen Konnotationen des Begriffs Assimilation die neutraleren Begriffe Akkulturation oder Integration vorzuziehen.