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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wanderjahre

mitgekommen und können zu Paris kein Verhältnis finden. So mäkeln sie seit Beginn des Aufenthalts in Paris herum und fühlen sich nicht zu Hause. Beide können kein Französisch, Lotti hat es später mit den Jahren gelernt, die Mutter nie. Die koschere Haus­haltsführung ist in Paris schwierig, das Einkäufen ohne Sprach- kenntnisse ein Hindemislauf, aber der einzige Kontakt mit der Außenwelt. Lotti geht auf die Dreißig zu und ist immer noch un­verheiratet, dazu ohne die Chance, in Paris auf geeignete Heirats­kandidaten zu stoßen. Schließlich ist »Simi« den tagtäglichen Klagen der beiden nicht mehr gewachsen und gibt nach: Die Frauen erzwingen die Rückkehr nach Pest.

Nordau seinerseits verfügt nun über die nötige Berufserfahrung und genug Fachpublikationen, um eine Niederlassung als Arzt in Pest realistisch in Angriff nehmen zu können. Durch die Vermitt­lung und unter Anleitung seines Pariser Lehrers und Professors Gennain See, der ihm persönlich weit näher steht als die Kory­phäe Charcot, hat er in der Abteilung für Frauenkrankheiten der Privatklinik des Dr. Martineau gearbeitet. Er kann also ernsthaft darüber nachdenken, den Brotberuf des Journalisten aufzuge­ben und sich als Gynäkologe niederzulassen. Auch wenn das zu­nächst schwierig sein würde, könnte er sich neben dem Arztberuf ja weiterhin der Schriftstellerei widmen. Über die dringlichen Rückkehrforderungen der »Familie« und die Schwierigkeiten bei einer Niederlassung in Pest hatte er sich anscheinend schon einge­hend mit Freunden und Kollegen ausgetauscht, denn in einem Brief des Kollegen Albert Sturm aus Pest heißt es schon im Fe­bruar 1877:

»Daß Ihre Familie nachhause kommen will, wundert mich nicht, wozu aber das Hinausbleiben? Wollen Sie sie vielleicht erwarten, damit sie mit Ihnen zugleich zurückkehren können? (...) Daß sie als praktischer Arzt hier einen sehr schweren Stand haben werden, ist mehr als wahrscheinlich. Man wird Sie immer für den Journalisten halten, als den man Sie kennt. Aber ein Mittel gibt es, das die Leute vorbereiten kann. Schicken Sie von Zeit zu Zeit kleine Notizen über sich in die >Pester med.fizi- nisch] chiru.[rgische] Presse< oder schreiben Sie in Pester Lauf­blätter über Ihre Clinik. Wir zb. werden immer Ihre Personalia gern geben. (...) Gibt es in Ihrer fetzigen Beschäftigung nichts,