88
Wanderjahre
mitgekommen und können zu Paris kein Verhältnis finden. So mäkeln sie seit Beginn des Aufenthalts in Paris herum und fühlen sich nicht zu Hause. Beide können kein Französisch, Lotti hat es später mit den Jahren gelernt, die Mutter nie. Die koschere Haushaltsführung ist in Paris schwierig, das Einkäufen ohne Sprach- kenntnisse ein Hindemislauf, aber der einzige Kontakt mit der Außenwelt. Lotti geht auf die Dreißig zu und ist immer noch unverheiratet, dazu ohne die Chance, in Paris auf geeignete Heiratskandidaten zu stoßen. Schließlich ist »Simi« den tagtäglichen Klagen der beiden nicht mehr gewachsen und gibt nach: Die Frauen erzwingen die Rückkehr nach Pest.
Nordau seinerseits verfügt nun über die nötige Berufserfahrung und genug Fachpublikationen, um eine Niederlassung als Arzt in Pest realistisch in Angriff nehmen zu können. Durch die Vermittlung und unter Anleitung seines Pariser Lehrers und Professors Gennain See, der ihm persönlich weit näher steht als die Koryphäe Charcot, hat er in der Abteilung für Frauenkrankheiten der Privatklinik des Dr. Martineau gearbeitet. Er kann also ernsthaft darüber nachdenken, den Brotberuf des Journalisten aufzugeben und sich als Gynäkologe niederzulassen. Auch wenn das zunächst schwierig sein würde, könnte er sich neben dem Arztberuf ja weiterhin der Schriftstellerei widmen. Über die dringlichen Rückkehrforderungen der »Familie« und die Schwierigkeiten bei einer Niederlassung in Pest hatte er sich anscheinend schon eingehend mit Freunden und Kollegen ausgetauscht, denn in einem Brief des Kollegen Albert Sturm aus Pest heißt es schon im Februar 1877:
»Daß Ihre Familie nachhause kommen will, wundert mich nicht, wozu aber das Hinausbleiben? Wollen Sie sie vielleicht erwarten, damit sie mit Ihnen zugleich zurückkehren können? (...) Daß sie als praktischer Arzt hier einen sehr schweren Stand haben werden, ist mehr als wahrscheinlich. Man wird Sie immer für den Journalisten halten, als den man Sie kennt. Aber ein Mittel gibt es, das die Leute vorbereiten kann. Schicken Sie von Zeit zu Zeit kleine Notizen über sich in die >Pester med.fizi- nisch] chiru.[rgische] Presse< oder schreiben Sie in Pester Laufblätter über Ihre Clinik. Wir zb. werden immer Ihre Personalia gern geben. (...) Gibt es in Ihrer fetzigen Beschäftigung nichts,