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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Schlußharmonie

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sehen Tradition der Psychopathologie, die an Comte anschließt , 86 ist in dieser Tradition jedoch der erste, der beruflich wie sachlich gar nicht mehr Psychopathologie, sondern als Psychopathologe ganz radikal nur noch Kulturkritik betreibt. Psychopathologie und Kulturkritik sind dabei die zwei Seiten einer Medaille und eines Kopfes.

Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit sind sonach Krankheitsphänomene. Ihre Inkarnationen wie der ewige Jungge­selle, aber auch der Priester und der Monarchist, sind krankhaft Degenerierte. Sie sind entartet in dem Sinne, daß sie der Norm des Normalen und Gesunden nicht entsprechen. Wird diese Norm wie in Nordaus »Solidaritätsmoral« dann durch den Darwinismus und den Utilitarismus vorgegeben, muß folgerichtig alles, was nicht der Evolution, der fortschrittlichen Entwicklung der Menschheit zum Besseren nützt, als »entartet« abqualifiziert werden . 87 Alles und alle, die nicht dem Nützlichkeitsideal der »natürlichen Moral« von Nordau entsprechen, gehören in den Abfalleimer nicht nur der Weltgeschichte, sondern der Klinik oder der Morgue. Jeder, der der natürlichen, d.h. »normalen« und gesunden Evolution und somit dem vorgesehenen Fortschritt der Menschheit nicht entspricht und nützt, ja sich solcher Norm gar weltanschaulich widersetzt, derje­nige, der physisch oder geistig weder mit dem Fortschritt noch mit der Gesundheit noch mit den Interessen der Menschheit soli­darisch ist und sich womöglich zu solcher Rückständigkeit be­kennt, ist eben in der Logik von Nordaus Dichotomie nicht einfach ein Außenseiter oder Abweichler, er ist notwendig ein krankhaft Entarteter. Entartet ist somit jeder nicht der darwinistischen und utilitaristischen Norm Entsprechende, der dauerhaft Kranke und der wenig Lebenstüchtige ebenso wie der weltanschaulich Anders­denkende und der Außenseiter in Kunst, Literatur und Musik. Ent-

86 Vgl. Georges Canguilhem, Le normal et le pathologique, 2. Aufl. Paris 1975.

87 Es wird nicht erst hier deutlich, daß sich meine Interpretation von Nordaus »Solidaritätsmoral« sowohl in der Analyse als auch in Genealogie und Bewer­tung grundlegend von der affirmativen Rekonstruktion Nordaus als eines »Phi­losophen der menschlicher Solidarität« unterscheidet, die Meir Ben-Horin unter dem Einfluß von John Dewey in einem ansonsten sehr gelehrten und hilfreichen Buch vorgelegt hat; s. Meir Ben-Horin, Max Nordau. Philosopher of Human Solidarity, New York 1956.