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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die conventioneilen Lügen der Kulturmenschheit

Menschen und auch auf die Moral übertragen. »Normal« und »pa­thologisch« werden die übergreifenden Beurteilungskriterien so­wohl in den Naturwissenschaften als auch in den von Comte be­gründeten Sozialwissenschaften. Enorm folgenreich ist dabei, daß die Alternative des Normalen nicht einfach das Anormale ist, son­dern daß das Anormale, selbst in der Sphäre des Geistes und der Moral, wie in der Medizin mit dem »Kranken« identifiziert wird. Das bringt alles Außergewöhnliche und von der statistischen Norm Abweichende, Ideen ebenso wie Verhaltensweisen, konsequenter­weise in den Ruch des »Pathologischen«. Nordau, anders als vor ihm der Comte-Kenner John Stuart Mill und die Utilitaristen, be­dient sich der Taxinomie von Normal versus Pathologisch und kommt schlüssig zu dem Ergebnis, daß alle von der »natürlichen« Solidaritätsmoral-Norm der Gemeinnützigkeit für die Menschheit abweichenden Individuen »der krankhaften Entartung verfallen« sein müssen. Während sich die Utilitaristen bei Abweichung von den utilitaristischen Gemeinwohl-Postulaten für äußere oder in­nerliche Sanktionen aussprechen 84 , wird der Gemeinwohl-Ver­ächter bei Nordau pathologisiert.

Durch die übergreifende Dichotomievon »Normal« oder »Pa­thologisch« agiert ein positivistischer Soziologe ä la Comte mit dem terminologischen Rüstzeug des Mediziners. Er wird durch die Aus­weitung dieser Dichotomie auf alle Lebensbereiche und Phäno­mene menschlichen Daseins zum Arzt der Gesellschaft . 85 Bei Comte hat das die klare politische Absicht, soziale Mißstände zu heilen und dadurch politische Revolutionen zu verhindern. Max Nordau ist dieser Arzt der Gesellschaft, ein gelernter Mediziner, der die Phänomene der Kulturmenschheit aus der Perspektive der Psychopathologie beurteilt, wie Comte mit der klaren Absicht, Hei­lung statt Revolution zu erreichen. Er steht dabei in einer französi-

84 Über die Differenzen zwischen Bentham (äußere Sanktion wie staatliche Strafen und gesellschaftliche Ächtung) und John Stuart Mill (innerliche Sanktio­nen wie schlechtes Gewissen) vgl. Bimbachers Nachwort zu Mill, Der Utilitaris­mus, S.123f. Unverzichtbar für die neuere Utilitarismus-Diskussion: J.J. C. Smart/ B. Williams, Utilitarianism for and against, Cambridge 1973.

85 Donald Geoffrey Charlton, Positivist Thought in France during the Second Empire 1852-1870, Oxford 1959, S. 47.