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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Paradoxe

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Nordau hat Kunst dienende Funktion. Sie soll, ganz im Sinne der Solidaritätsmoral, dem Gemeinwohl und der fortschreitenden Evolution der Gattung nützen. Die Empfindung von Schönheit, so Nordau als selbsternannter Vertreter der »evolutionistischen Philosophie« 37 , hat weder irgendein Apriori noch ein übersinn­liches Gefühl oder irgendeine andere »metaphysische Unendlich­keitsbrühe« zur Grundlage, sondern eine Lustempfindung. Und es ist evolutionistisch-utilitaristische Regel, daß solche Lustemp­findungen von Phänomenen hervorgerufen werden, die der Er­haltung und Verbesserung der Art nützen. Kurz: Als schön, weil lusterregend, gelten in der evolutionistischen Ästhetik solche natürlichen Phänomene und deren künstlerische Repräsentation, die der Evolution der Gattung Menschheit förderlich sind, z. B. Rosen-, nicht Fäulnis-Duft ! 38 Kunst kann bei Nordau der Reprä­sentation von Natur nie entkommen, so wenig wie der Mensch, wie Kultur und Geist je dem Bann der Natur entkommen können. Denn zuletzt ist in seiner »evolutionistischen Philosphie« alles Natur.

Die beiden aufeinander folgenden Kapitel Der Staat als Charak­ter-Vernichter und Nationalität werden besser verständlich, wenn wir sie mit dem Wissen lesen, daß es in diesen Jahren Nordaus gro­ßer Wunsch ist, als deutscher Schriftsteller anerkannt zu werden. Er hat sich mit dem Korrespondenten der Kreuz-Zeitung Eugen von Jagow eng befreundet und spielt mit dem Gedanken, nach Berlin überzusiedeln, wenn es ihm finanziell möglich ist. Seine jü­dische und ungarische Herkunft möchte er am liebsten vergessen machen, ln Der Staat als Charakter-Vernichter trompetet Nordau sein deutsches Glaubensbekenntnis heraus: Die Deutschen seien »das erste und mächtigste Kulturvolk der Erde «. 39

Im Kapitel Nationalität definiert Nordau, scheinbar allgemein­gültig, die Nationalität so, daß er sich selbst als »deutscher Nationa­lität« fühlen und bezeichnen könnte. Denn worin besteht seiner Meinung nach die Nationalität? Sie besteht nicht in der Abstam­mung (exit Fichtes deutsches Germanentum). Sie besteht auch