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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Paradoxe und Privates

nicht in einer Rassen-Zugehörigkeit (exeunt Gobineau und Düh- ring), denn innerhalb der weißen Rasse gebe es keine hinreichen­den nationalen Typenunterschiede. So seien die Immigrantenkin­der Fontane und Chamisso »urdeutsch« (warum also nicht auch ein Berlin-Immigrant aus Pest mit Posener Vorfahren?). 40 Im Lichte der Wissenschaft, so schreibt Nordau einige Jahre vor Re- nans berühmt gewordener, weltanschaulich gleichgesinnter Rede über die Nation ( Quest-ce quune nation?, 1892), sei eine anthro­pologische Grundlage für Nationalitätszugehörigkeit mangels em­pirischer Kriterien nicht zu verteidigen. 41

Also weder die Abstammung noch gemeinsames Geschick und gemeinsame Gesetze, sondern allein die Sprache bestimmt die Na­tionalität. Denn die Sprache verbindet die Kultur, die Empfindung und das Handeln der Nation. Die Sprache ist das stärkste Band zwischen Menschen überhaupt, denn »die Sprache ist ganz eigent­lich der Mensch selbst« 42 (damit wäre Nordau als deutschsprachi­ger Schriftsteller tiefinnerst und wesenhaft Deutscher). Nur die Ju­den (!) sind verstockt und beugen sich dieser Regel nicht. Sie halten vielmehr trotz aller Verschiedenheit der Sprachen an ihren Ge­wohnheiten und an ihrem Volkscharakter fest, beugen sich also der sprachlichen Definition der Nationalität nicht und können sich deswegen nicht assimilieren.

»Kaum zu bezweifeln ist, daß z. B. die Juden von den Völkern, unter denen sie leben, hauptsächlich darum als Fremde angese­hen werden, weil sie mit unbegreiflicher Verblendung und Hart­näckigkeit an äußerlichen Gepflogenheiten, wie Zeitrechnung, Feier der Ruhetage und Feste, Speisengesetze, Wahl der Vorna­men u.s.w.« - das ist exakt eine Liste der Dinge, an denen sich der Jude Nordau seit je gestört hat und die er alle aus seinem Leben verbannen wollte - »festhalten, welche von ihren christlichen Volksgenossen völlig verschieden sind.« 43

Was Sprache bedeuten kann, wisse nur der, der sie einmal ver­leugnen mußte, schreibt Nordau aus bitterer eigener Erfahrung.

40 S. 380 f.

41 S. 383.

42 S. 385.

43 S. 383 f.