Der Brief-Freund
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nicht nur Nordaus erster, sondern auch sein impliziter Leser ist, auch wenn kein Brief das so plump sagt. Jedenfalls gehört von Ja- gow zum imaginären Publikum Nordaus und teilt nicht zuletzt dessen Thesen von der Entartung der zeitgenössischen Literatur und Kunst, in der er selbst nur eine krasse Außenseiterrolle spielt. In aestheticis sind beide sich nahe: Gegen Entartung und Dekadenz huldigen sie dem Naturalismus der etliche Jahre jüngeren Autoren Hermann Sudermann (* 1857) und Gerhart Hauptmann (* 1861), allerdings mit privatem Degout angesichts von deren antibürgerlichen Allüren und Lebenswandel. Sudermanns Sodoms Ende (1890) findet, ebenso wie Hauptmanns Weber (1892), deren Aufführung er miterlebt, Nordaus Wertschätzung. 61
Als Schriftsteller wie als Journalist ist Nordau erfolgreicher als von Jagow. Er hilft von Jagow anfangs beim Unterbringen von Pa ris -Berichten in kleineren deutschen Provinz-Zeitungen, die das karge Korrespondentengehalt der Kreuz-Zeitung aufbessem sollen. Im Notfall bietet er von Jagow an, ihm Geld zu leihen. 62 Er verwendet sich darüber hinaus jedoch auch für dessen Stücke bei Kritik, Theaterdirektoren und Verlegern. 63 Selbst beim eigenen Blatt, der Vossischen würde er sich für die erfolglosen Stücke von Jagows einsetzen, aber da herrscht der Kollege Theodor Fontane in der Theaterkritik mit ungebeugter Autorität. Im eigenen Interesse rät Nordau von Jagow, Fontane um eine Rezension zu bitten: »Fon tane hat das Ohr des Berliner Publikums, was ich von mir leider nicht sagen kann.« 64
Von Jagow seinerseits schreibt später, als heftige Debatten um Entartung toben, Polemiken zur Verteidigung Nordaus. Beide trösten sich gegenseitig, wenn sie Ablehnung oder Verrisse ernten. Nordau : »fa, es ist empörend. Aber ich habe immer gewußt, von welchen Geistern der Bühnendichter abhängt, und das war es, was mich, der ich mich bei Beginn meiner Schriftsteller-Laufbahn Dramatiker bis zur Fingerspitze fühlte und zuerst nur