Entartung
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Entartung
Die Entartung und den Niedergang der Zivilisation beklagen schon Autoren der Antike. Dagegen steht Jean-Jacques Rousseau am Anfang einer spezifisch modernen, der Antike fremden Zivilisationskritik - jener modernen Kritik an einer Entartung durch Zivilisation. Gemäß Rousseaus Discours sur l’origine de l’inegaltte parmi les hommes aus dem Jahre 1755 verließen die Menschen den ursprünglichen, idealen und gesunden Naturzustand in Richtung auf, wie Kant schrieb, »Zivilisierung«. 1 Die Zivilisation ist, gegenüber dem Naturzustand, für die Adepten Rousseaus der Anfang und die Ursache aller Übel und Gebrechen, aller Krankheiten und Laster des Menschen, denn sie entfremdet ihn zunehmend der Natur im ganzen und seiner eigenen, ursprünglich guten Natur im Naturzustand.
Eingang in die weitere Sphäre der positivistisch orientierten Wissenschaften findet solche aufklärerische Zivilisationskritik an der Entartung durch Zivilisation bei dem französischen Psychiater Benedict Augustin Morel (1809-1873), dessen einschlägiger Tratte des degenerescences physiques, intellectuelles et morales de l’espece humaine 1857 in Paris gedruckt wurde. 2 Morel verändert die Rede von Entartung gleich in mehrfacher Hinsicht. Ent-
1 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werkausgabe, hg. v. W. Weischedel, Bd. 12, Frankfurt/M. 1977, S.680; 707 u.ö.
2 Vgl. Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 47- 50.