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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Entartung

scheidend ist, auch für Nordau, der sich später auf Morel beru­fen wird, daß Entartung bei Morel als Krankheit begriffen wird, und zwar als Geisteskrankheit. Die Zivilisationskritik wird damit zur Sache des Arztes, besonders des Psychiaters, die Phänomene von Entartung, gleich ob intellektuell, moralisch oder physisch, werden Gegenstand der Pathologie und besonders der Psycho­pathologie.

Der Arzt und Schriftsteller Max Nordau kann sich daher mit vol­lem Recht innerhalb dieses durch Morel initiierten Diskurses zum Zivilisationskritiker geradezu berufen fühlen. Denn der Arzt, nicht mehr der Philosoph, der Jurist, der Priester oder der Politiker, dia­gnostiziert die Entartung durch Zivilisation und therapiert sie dann auch. Entartung im weitesten Sinn wird auf diese Weise zum Thera­pie-Objekt der Medizin, erst in zweiter Linie der Moral, des Rechts oder der Politik.

Bedeutsam ist an dieser grundsätzlichen Veränderung des Zivili­sations-Diskurses und seiner Regeln ab der Mitte des 19. Jahrhun­derts, daß eben auch die moralische, ästhetische und intellektuelle Sphäre und damit andere wichtige Felder und Triebfedern von Zi­vilisation dem Urteil des Arztes unterworfen werden, der sie, wie es seinem Amt entspricht, nach den Kriterien von Gesund und Krank unterscheidet. Damit wird bei Morel und bei den Psychopatholo- gen in seinen Fußstapfen der gesamte Diskurs um Entartung durch Zivilisation pathologisiert.

Wie seit Comte in allen auf den Positivismus eingeschworenen Wissenschaften, in den Naturwissenschaften ebenso wie in der So­ziologie und Medizin üblich geworden 3 , wird nun bei allen Zivili­sationsphänomenen, also auch im Bereich des Moralischen, Kultu­rellen, Ästhetischen, Sozialen und Intellektuellen, genauso wie in der Biologie und Medizin nur noch zwischen Gesund und Krank unterschieden. Das Normale ist sonach >gesund<, das Normabwei­chende, Anormale ist >krank<. Entartung durch Zivilisation, sei sie

3 George Canguilhem, Le Normal et le pathologique, Paris 2 1972. Bekannter sind die diesbezüglichen Arbeiten des Canguilhem-Schülers Michel Foucault, besonders sein Buch: Psychologie und Geisteskrankheit (Maladie mentale et Psychologie, Paris 1954), Frankfurt/M. 1977, sowie: La naissance de la clinique, Paris 1963; Histoire de la folie ä läge classique, Paris 1972.