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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Entartung

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physische, moralische oder intellektuelle Entartung, ist eine nega­tive Normabweichung und gilt nach den Regeln solchen Diskurses als >krank< oder als Krankheitssymptom.

Krankheit ist die übergreifende Kategorie, unter die das normab­weichende Häßliche, Dumme, Unmoralische, Gesetzwidrige oder Fehlerhafte subsumiert werden. Da seit Morel im Entartungs- Diskurs nun potentiell alle Phänomene der Zivilisation, seien es Weltanschauungs- oder Lebensformen, Mode oder Kunst, an die­sem Paradigma von Normal versus Pathologisch gemessen werden können, kann buchstäblich jedes Zivilisationsphänomen als norm­abweichend und entartet, damit als krank und therapiebedürftig eingestuft werden. Zivilisationskrankheit wird zur Tautologie, wo Zivilisation selbst zur Ursache aller Entartung erklärt wird. Zivili­sation wird am Ende selber in dem Maße zur Krankheit, wie sie sich von der vermeintlich »gesundem Natur fortentwickelt. Bei Nordau liegt diese Denkweise und dieser Diskurs von Normal versus Pa­thologisch nicht erst der Kulturkritik von Entartung zugrunde, Nordau gebraucht dieses Unterscheidungskriterium schon seit den Conventionellen Lügen der Kulturmenschheit und seit Para­doxe, wo er ja, wie wir gesehen haben, auch schon von Entartung spricht.

Der Eigenlogik dieses pathologisierten Zivilisations-Diskurses unterliegen nicht nur die Zivilisationskritiker, sondern die Künstler selber: »Krankheit als Metapher« (Susan Sontag 4 ) ist nicht erst ein Fund des 20. Jahrhunderts, sie ist schon eine der wichtigsten Meta­phern der gesamten deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts und ist dies bis heute geblieben. 5 Mit Goethes Werther begann eine Ex- kulpierung der Geisteskrankheit, die schon mit Büchners Lenz paradigmatisch wurde: Geisteskrankheit ist nicht mehr, wie noch die Psychopathologen der Aufklärung im Gefolge der christ­lichen Theologie meinten, eine Folge von Unmoral. Überhaupt ist Krankheit nicht mehr eine Folge von Sünde, sondern hat andere Ursachen. Es besteht, wie Kant gegen die Theologie für ein gan­zes Zeitalter gezeigt hat, kein kausaler Zusammenhang zwischen

4 Susan Sontag, Krankheit als Metapher, München 1980.

5 Thomas Anz, Gesund oder krank ? Medizin, Moral und Ästhetik in der deut­schen Gegenwartsliteratur, Stuttgart 1989.