Zweiter Band
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gitimation der Schutzmänner. Und bei Verbalinjurien des autoritären Charakters, mit denen das Kapitel zu den »Decadenten und Aestheten« endet. Diese sind »Gelichter«, stehen tiefer »als der letzte Kanalräumer«, bringen dem Gemeinwesen keinen Nutzen, sind »Schwächlinge des Willens«, arbeitsunwillig, »schmarotzen«, betreiben »emsige Tagedieberei«, sind »Sudler« und »Auswurf der gesitteten Völker«. 127 Das ist die Sprache des gesunden Volksempfindens gegen die moderne Kunst. 1895 erscheint Entartung unter dem Titel Degeneration schon in fünfter Auflage im Verlag Heinemann in London . Im gleichen Jahr wird Oscar Wilde , der, wie Nordau ganz richtig bemerkt hat, mit seinem The Picture of Dorian Gray den >klassischen< englischen Dekadenz-Roman vorgelegt hatte und auffälligster Protagonist des l’art pour l’art in England war, seiner Homosexualität wegen in einem Schauprozeß verurteilt und in die Haftanstalt Reading verbracht. Er stirbt 1900, ein Opfer des gesunden Volksempfindens seiner Richter, als gebrochener Mann. 128
Der Ibsenismus. Henrik Ibsen solle noch auf seine alten Tage zum »Weltdichter des ausgehenden Jahrhunderts« gemacht werden, eröffnet Nordau seine Ibsen -Kritik 129 , die auf beinahe 120 Seiten voller Wiederholungen die immer gleichen, sattsam bekannten Vorwürfe von Entartung anhäuft und durch Zitate aus Ibsen -Stük- ken zu belegen versucht. Wie immer wird vom Inhalt der Stücke auf den Geisteszustand des Autors geschlossen, wie immer mit dem gleichen Ergebnis: auch Ibsen ist ein Entarteter.
Nordaus Antipathie gegen Ibsen geht so weit, daß er noch vor Entartung sogar ein Anti-Ibsen-Stück geschrieben hatte - Das Recht zu lieben. Dieses wurde aber erst nach dem Erscheinen von Entartung am 12. August 1893 in Oskar Blumenthals Lessingtheater in Berlin uraufgeführt und erntete Verrisse. Die theoretische Unterfütterung der Haltung gegen Ibsen und der emotionale Kontext dieses Stücks lassen sich in Entartung ausführlich nach-