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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Entartung

lesen. Im Kern, das ist überdeutlich, stören Nordau Ibsens Frauengestalten. Sie sind ihm zu selbständig und als Mütter un­brauchbar.

Nur ein »Schmarotzer des Ruhmes oder Rufes Anderer«, der wie Georg Brandes mit seinem Buch Moderne Geister (Frankfurt / M. 1886), einem »Evangelium der Leidenschaft«, die skandinavi­sche Jugend verdirbt, könne auf Ibsen setzen. 130 Mit Brandes, aber ohne diesen zu nennen, stellt Nordau den Einfluß Kierkegaards auf Ibsen heraus. Ibsen ist der verfremdete »Widerhall« Kierkegaards , er bleibt ihm in seinen Grundgedanken verhaftet. 131 Die Lebens­beichten, das Selbstopfer-Motiv und vor allem die an die Erbsünde gemahnende Vererbung von Krankheit und Lastern seien »christ­lich-dogmatische Zwangsvorstellungen« und Mystizismus. 132 Mit wissenschaftlichem Realismus habe das entgegen allem Anschein gar nichts zu tun.

Das rote Tuch für Nordau ist Ibsens Nora. Die Nora-Abgänge seien das »Evangelium der Hysteriker beider Geschlechter gewor­den«. 133 Nora bietet das Paradigma eines Ehemodells, bei dem in der Konsequenz die junge Frau die nötige Ehe-Reife erlangt, indem sie vorehelich »abenteuert«, womöglich schon Kinder hat und mehrere Haushalte kennenlemte - und sich dann erst findet, um Hausfrau und Mutter zu sein. 134 Diese Art von »Probeehe« zerstöre die gesellschaftliche Institution der Ehe selber und gehe allemal zu Lasten des Mannes: »Das Weib hat bei Ibsen keine Pflicht und alle Rechte. Das Band der Ehe fesselt es nicht. Es geht, wenn es nach Freiheit verlangt ..,« 135 Die Ehemänner bei Ibsen seien entweder Feiglinge oder Dummköpfe. Ibsen und sein Ideal-Mann sind den Frauen gegenüber »Masochist« 136 , seine Frauenfiguren haben den Trieb zur Mutterschaft verloren, sind hysterisch und nymphoma- nisch. 137 Kein Wunder, daß sich Ibsens weibliche Kundschaft aus

130 Entartung» 181.

131 Entartung » 183.

132 Entartung II199.

133 Entartung II215 f.

134 Entartung II216.

135 Entartung II 266f.

136 Entartung II268f. u. Anm.

137 Entartung II267.