252
Entartung
schöpfen zu können, kann er die Avantgarde-Kunst des Fin de siecle nicht als zeitgenössische und zeitgeistige Problemanzeige, sondern nur als Unwahrheit und Todfeind wahmehmen. Diesen Fehler haben schon die Zeitgenossen, aber auch die Nordau-Lite- ratur oft mitgemacht, indem sie entweder Entartung affirmierten oder mit Degout zurückwiesen.
Ich habe hier versucht, Entartung als Problemanzeige zu lesen, Problemanzeige im doppelten Sinn: Generelle Problemanzeige der Gefahren und Untiefen von pathologisierender Kulturkritik an vielleicht ihrem auffälligsten Beispiel; sehr frühzeitige Problemanzeige aber auch einer modernen Entwicklung der Kunst und des Kunstverständnisses in ihren Entstehungsjahren, in denen unter den Augen ihres Kritikers die Autonomie der nicht mehr schönen Künste verwirklicht wird und sich ihre explizite Loslösung vom Index des Schönen, Wahren und Guten, von Staat und Gesellschaft vollzieht. Heute scheint die totale Autonomie der nicht mehr schönen Künste, nachdem sich die Avantgarde des Fin de siecle trotz Nordau durchgesetzt hat, nur noch ein Thema von Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte zu sein. Nordau ist ein kenntnisreicher Zeitzeuge dieses Prozesses, der indiziert, welche Zumutung diese Autonomisierung für das bürgerlich-aufgeklärte Normalbewußtsein seiner Zeit war. Eine überdeutliche, aber ernst zu nehmende Problemanzeige. Denn der Umstand, daß er in seiner Kritik der Avantgarde meist falsch lag und, wenn wir aus historischer Perspektive zurückschauen, am Ende der Avantgarde unterlag, garantiert nicht ex negativo die Wahrheit von deren weltanschaulichen Optionen oder gar die Qualität von deren Werken.