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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Zweiter Band

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bewußt, daß er in Entartung eine Generalabrechnung mit der künstlerischen Avantgarde des Fin de siede vorlegt, in der einfach jede Kunst in Entartungs-Verdacht gerät. Und so gesteht er sogar, gegen den Schluß, jede Kunst sei eine »leise Abweichung von der vollen Gesundheit«, würde er sich nicht wehren. 181

Damit ist Kunst per se pathologisiert. Nur der Fortschritt, die Wissenschaft, die Arbeit, Freiheit und Aufklärung sind über jeden Krankheits-Verdacht erhaben. Aber das stört Nordau nicht. Viel­mehr kann auch das Resultat einer Pathologisierung aller Kunst seinen Glauben an Wissenschaft und kritische Methode nicht er­schüttern. »Wenn die wissenschaftliche Kritik, welche das Kunst­werk nach den Lehren der Psychologie und Psychiatrie prüft, zu dem Ergebnis führen sollte, daß alle Kunstthätigkeit krankhaft ist, so würde das noch immer nichts gegen die Richtigkeit meiner kritischen Methode beweisen. Es wäre nur eine neue Erkenntniß gewonnen .« 182

Hier immunisiert und vollendet sich konsequent die extremste Gegenposition zum Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts, für dessen avancierteste Positionen die Welt nur geschaffen war, um Kunst zu ermöglichen. Fiat ars, pereat mundus. Nordau bezieht mit seiner These vom Ende der Kunst in der Zukunft die Gegenposition dazu. Seine Welt wird die Kunst und allemal die »geistige Volkskrank­heit« des Ästhetizismus überdauern. Fiat mundus, pereat ars.

Der in der Jenenser Frühromantik erstmals seit Platons Sympo­sion wieder aufgekommene Gedanke eines Primats der Kunst vor der Wissenschaft wird so leidenschaftlich bekämpft wie bei sonst kaum einem Autor des 19. und 20. Jahrhunderts. Pathologisierung der Gegner und verbale Gewaltsamkeit - kein rhetorisches Mittel wird dabei gescheut. Daß das Beziehen der genauen Gegenposition zu dem als falsch Erkannten die Wahrheit der eigenen Position nicht verbürgt, ist für einen geborenen Polemiker wie Nordau viel zu zurückhaltend und kompliziert. Die Dialektik der Aufklärung bei ihm besteht darin, daß seine Kritik nicht Selbstkritik voraus­setzt, sondern vielmehr gegen diese sich immunisiert. Weil Nordau meint, aus einem Fundus wissenschaftlich verbürgter Wahrheiten

181 Entartung II548.

182 Entartung II546.