Druckschrift 
Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
Seite
261
Einzelbild herunterladen

ihm seine Herkunft nicht eine Kugel am Bein 17 , sondern ein Anker sein soll.

Natürlich hat die Problemlage des Stücks, nicht sein Ausgang, mit Nordaus wirklichen Lebensverhältnissen zu tun. Auch hat er, abgesehen von seiner zweijährigen europäischen Bildungsreise in den siebziger Jahren, seine Mutter und den gemeinsamen Haushalt nie verlassen, obwohl dies finanziell möglich gewesen wäre. Aber üblich war es nicht, und noch in Meine Selbstbiographie von 1909 beteuert er, daß ihn in Paris über Jahrzehnte »außer meiner from­men Mutter« und dem Familienzusammenhang kein Band mehr mit dem Judentum verknüpfte. 18 Er hat trotz allen Widerwillens, dem er direkt in Briefen an die Schwester Lotti, literarisch verklei­det im Roman Gefühls-Komödie und in Die Kugel Ausdruck gibt, als Sohn und als Arzt bis zu ihrem Tod am 2. Januar 1900 verläßlich für sie gesorgt.

Das wird, ironischerweise, gerade in den letzten Tagen vor sei­ner Reise nach Berlin zu den letzten Proben von Die Kugel deut­lich: Seine Mutter war schon im August 1894 so senil und geistig verwirrt, daß sie im gemeinsamen Kur-Urlaub in Baden in der Schweiz ständiger Pflege und Aufsicht bedurfte. 19 Am 20. Oktober schließlich, vier Tage vor Nordaus Abreise aus Paris, war sie morgens nur zum Einkäufen um die Ecke in eine der kleinen Straßen in der Nähe der Place Malesherbes (heute: Place du Ge­neral Catroux) gegangen und hatte sich verlaufen. Da sie sich an­scheinend weder den Passanten verständlich machen und nach dem Weg fragen noch die Straßenschilder lesen konnte, lief die alte Frau von einundachtzig Jahren vollkommen wirr von 10 Uhr

17 Nicht »Die Kanonenkugel«, wie S.O. Fangor in seiner deutschen Über­setzung von Max Nordau. Erinnerungen aus dem französischen Manu­skript fälschlich übersetzt, weil er offensichtlich kein Druckexemplar des Stücks Die Kugel vorliegen hatte. Aber das ist nur eine von Dutzenden Ungenauig­keiten und Fehlern in dieser Übersetzung. Eine Kanonenkugel spielt in dem Stück keine Rolle, die »Kugel« meint als pars pro toto eindeutig die ärmliche Herkunft. Vgl. Die Kugel. Schauspiel in fünf Aufzügen von Max Nordau, Ber­lin: Theateragentur A. Entsch 1894; Neudruck: Berlin: E. Hoffmann 1895. »Zum erstenmal aufgeführt im Lessingtheater, Berlin, am 31.Oktober 1894.« (S.6)

18 Max Nordau, Zionistische Schriften, Köln 2 1923, S. 486.

19 Brief Nordau-von Jagow, Baden, 11.8.1894, ZZA A 119/283/ 159.