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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dreyfus und die Folgen

rückzuführen sein. Schon am 31. Oktober 1894 findet schließlich die Uraufführung statt, und Nordau kann den Premierenapplaus auf der Bühne selbst entgegennehmen. Aber seine Freude ist von kurzer Dauer. Vor der Berliner Kritik findet das Stück keine Gnade und wird nach nur drei Vorstellungen abgesetzt. Sogar der Theaterkritiker des eigenen Blattes, der Vossischen Zeitung, hatte den Pariser Kollegen Nordau nicht geschont und geschrieben: »Nordau dichtet mit dem Kopfe, nicht mit dem Herzen. Er ist Philo­soph, nicht Dichter.« Das ist und bleibt in Deutschland das Bild Nordaus. »Doch gegen ein Schlagwort ist nicht aufzukommen: in der Literatur so wenig wie in der Politik«, schreibt er resigniert an von Jagow. 16

Dabei verarbeitet Die Kugel viel eher persönliche als weltan­schauliche Probleme Nordaus. Das Stück ist auf den ersten Blick das in einer moralisierenden Handlung verpackte Drama eines skrupellosen neubürgerlichen Aufsteigers aus kleinen Verhältnis­sen in der mondänen Gesellschaft der Großstadt, der von seiner Hochstapelei und seiner Herkunft eingeholt wird: Dr. Fritz Sickart ist ein rücksichtsloser, ehrgeiziger und erfolgreicher junger Anwalt in Berlin. Die Kugel am Bein, welche er ijiit sich herumzuschleppen wähnt, ist seine niedrige Herkunft, verkörpert durch seine verwit­wete, Dialekt sprechende Mutter und seine frühere Geliebte Luise Wahbe sowie ihren gemeinsamen unehelichen Sohn. Sickart will sich von seiner Herkunft vom Lande als Sohn des Dienstpersonals der Frau von Olderode lösen, verbannt deswegen seine Mutter aus seiner Berliner Wohnung, macht der älteren, geschiedenen, aber reichen und hochadligen Gerda von Döbbelin einen Heiratsantrag und läßt sich als Kandidat der Konservativen Partei nominieren. Seine Projekte scheitern alle, als sich seine Gegner seiner eigenen Methoden der Intrige und privaten Nachforschung bedienen und so seine Unwahrhaftigkeit und seine Machenschaften zur Vertu­schung seiner Herkunft und Vorgeschichte aufdecken. Sickart kommt, obwohl er Geld unterschlagen hat, am Ende auf Fürspra­che seiner geliebt-verachteten alten Mutter davon, heiratet Luise, die ihn immer geliebt hat, und will nach Amerika auswandern, wo

16 Alle Zitate: Brief Nordau - von Jagow, Paris, 13.11.1894, ZZA A 119/