Die Kugel
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morgens bis 6 Uhr abends durch die Stadt, bis die Polizei sie dann im Regen auf einem Platz in Auteuil, am anderen Ende der Stadt, fand. Nordau hatte, nachdem die Bonne, seine Schwester Lotti und zuletzt er selbst die Mutter, sogar in den Krankenhäusern und in der Morgue, vergeblich gesucht hatten, seine Kontakte spielen lassen und über seinen Freund Arthur Meyer, den Chefredakteur des Gaulois, beim Pariser Polizeipräfekten erreicht, daß alle Pariser Polizeikommissariate dort am Abend Bericht zu erstatten hatten. Gegen 18.30 Uhr wußte er seine Mutter gefunden, um 20 Uhr konnte er sie selbst abholen und medizinisch versorgen. 20 Sie hat diesen Ausflug gesundheitlich gut überstanden und lebte verwirrt, aber zäh, noch über fünf Jahre bis zu ihrem Tod als Pflegefall im Haushalt ihres Sohnes. Nordau hat diesen »schlimmsten Tag meines Lebens«, wie er an Eugen von Jagow schrieb, 21 in seinem Roman Drohnenschlacht von 1897 mit wenigen personellen Variationen und quasi autobiographischer Ausmalung vor dem Leser ausgebreitet. 22
Mit dieser für ihre Angehörigen, nicht für sie selbst dramatischen Episode ist nunmehr auch äußerlich klar, daß die alte, fromme Mutter Nordaus mit ihrer halachischen jüdischen Lebensweise den Haushalt in der Avenue de Villiers nicht mehr dominiert. Wie sein Rezeptblock und seine ärztlichen Visitenkarten zeigen, hatte Nordau schon lange seine ärztlichen Sprechstunden auf den Samstagnachmittag gelegt, wahrscheinlich weil er dann als Journalist nicht so beschäftigt war. 23 Da ein Raum der eigenen Wohnung als Sprech- und Behandlungszimmer fungierte, war damit permanent und ostentativ der Sabbat gebrochen.
Ein weit einschneidenderes Ereignis jedoch ist, daß Nordau ebenfalls in jenem dramatischen Oktober 1894 Anna Kaufmann,
20 Die Details dieser Episode in: Max Nordau. Erinnerungen, S. 173-176.
21 Brief Nordau-von Jagow, Paris, 21.10.1894, ZZAA 119/283/173.
22 Drohnenschlacht. Roman von Max Nordau, 2 Bde., Berlin: Carl Duncker Verlag 1897,1. Band, 2. Buch.
23 Vgl. die Nordau-Akte in der Sammlung Schwadron in der Hebräischen Universitäts- und Nationalbibliothek, Jerusalem, Signatur: Schw II /1. Dort gibt es eine Arzt-Visitenkarte Nordaus mit der Anschrift »34, Avenue Villiers« und den Sprechstunden »Mardi, Jeudi Samedi de cinq ä sept heures«.