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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Dreyfus und die Folgen

seine Wirkung nicht: Am Ende des 19. Jahrhunderts, in der fortge­schrittensten europäischen Demokratie, in der fortgeschrittensten Metropole der Welt gilt, immer noch, der französische Offizier jüdi­scher Herkunft Alfred Dreyfus als Judas, als der jüdische Verräter par excellence. Die Menge will kein Verfahren, sie will seinen Kopf: Der französische Offizier Alfred Dreyfus ist als Jude, als Judas, die Zielscheibe des Hasses von Millionen Franzosen. La parade de Judas hat der später berühmte französische Literat und Antisemit Maurice Barres (1862-1923) seinen Bericht über die Degradierung von Alfred Dreyfus auf dem großen Hof der £cole Militaire beti­telt. 33 Deutlicher und, der Vorurteilsstruktur nach, archaischer konnte in den Augen von Nordau und Herzl die Assimilation der Juden in einer aufgeklärten modernen Gesellschaft nicht scheitern.

Im Jahr 1895 ziehen Herzl und Nordau daraus ihre Konsequenz. Dieser Antisemitismus läßt sich nicht mehr verdrängen oder abtun, ihm müssen sie sich stellen. Zu dieser Einsicht kommen beide noch jeder für sich, aber als sie darüber sprechen, entdecken sie die Ge­meinsamkeit der Überzeugung. Aus zwei Autoren und Journali­sten, die sich als Kollegen schätzten und angefreundet hatten, wer­den im Laufe des Jahres 1895 zwei Streiter für die Idee eines Juden­staates. Herzl hat die Idee und übernimmt die Initiative, Nordau hat ihn vom ersten Moment an unterstützt und gehört so zu den Mitbe­gründern des modernen Zionismus.

Neben dem Gemeinsamen beider Männer, wie ihrer Herkunft als Pester Juden, ihren literarischen Ambitionen und dem gemein­samen Beruf des Ausländskorrespondenten in Paris, ergeben sich bald auch Differenzen: Herzl ist der um elf Jahre Jüngere, er ist an­fangs bei weitem nicht so bekannt wie der Bestseller-Autor Nordau, er erhebt gleichwohl aber den Führungsanspruch in der zionisti­schen Bewegung. Nordau akzeptiert das und unterstützt ihn loyal, aber er ist, anders als Herzl, nicht bereit, seine ganze Existenz in den Dienst des Zionismus zu stellen. Vielmehr bewahrt er seine innere und äußere, beruflich-ökonomische Unabhängigkeit von der zioni­stischen Bewegung und Idee. Und während Herzl nur wenige Jahre bis zu seinem frühen Tod 1904 für die Idee eines Judenstaates wir-

33 Maurice Barres, »La parade de Judas«, in: Le Journal, 4.7. u. 7.7.1899, zit- nach Bredin, LAffaire, S. 11 ff.