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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wien, Paris, Madrid, London, Paris

nebst der erforderlichen Freihaltung ist nicht ins Gesetz einge­schrieben, und vor der jungen Dame, die ihr Recht auf Liebe gebraucht hat, öffnen sich verschiedene Wege, die in die Dach­kammer und das Krankenhaus, in die Seine mit der Endstation Morgue, auf das Trottoir und den Moulin Rouge, und nur ganz ausnahmsweise in das bescheidene Ehegemach eines gutmüti­gen Mannes ohne Vorurteil oder gar auf ein Schloßgut mit Patro­natsrechten führt. (...)

Ausnahmen läßt die Welt hingehen. Wenn man aber die These verallgemeinern will, wird jeder, der kein Frauenfeind oder ver­härteter Selbstling ist, achselzuckend daran erinnern, daß die Ehe in der heutigen Wirtschaftsordnung nicht zum Vorteil des Mannes, sondern zum Schutze der Frau und des Kindes besteht. Bei der freien Liebe hat der Mann nichts, die Frau alles zu verlie­ren. Das würde sich erst ändern, wenn die wirtschaftliche Un­mündigkeit der Frau aufhören oder wenn der Staat ihr Ansprü­che auf den Vater unehelicher Kinder gesetzlich einräumen würde. Diese Umwälzung müßte der Verkündigung der Sinnen­freiheit für das Weib voraufgehen. Warten wir das ab .« 11

Am stärksten nimmt Nordau gegen die Emanzipation der Frauen ein, daß diese dann oft keine Kinder wollen und darum, oft mit Zustimmung der Männer, ihre >wissenschaftlich< sakrosankte Funktion bei der Fortpflanzung nicht mehr wie von der Natur vor­gesehen erfüllen.

»Die Soziologen allein scheinen das Richtige zu treffen, wenn sie lehren, daß das Versiegen des französischen Lebensstromes keine biologische, sondern eine gesellschaftliche Erscheinung ist, nicht von der organischen Beschaffenheit der Individuen, sondern von den Gesetzen und Einrichtungen, den sittlichen An­schauungen und der Lebensauffassung abhängt. Wenn man keine Kinder hat, so ist es nicht, weil man keine haben kann, sondern weil man keine haben will .«

»Mit Ueberredung, mit Beweisen und Argumenten ist bei der Frau nichts auszurichten. Das Gebären ist ihre Sache, und wie sie es damit halten will, das macht sie allein mit sich aus. Flier ist der Kern der Frage, über die soviel daneben philosophiert wird.

11 NFP v. 13.1.1909,