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Wien, Paris, Madrid, London, Paris
Jedesmal, wenn die Frau vergöttert wird, wenn die Gesellschaft übereinkommt, sie als Selbstzweck zu setzen, und von ihr nichts anderes verlangt, als schön zu sein - >Que m’importe que tu sois bonne ? - Sois belle et sois triste... < wie Baudelaire sagt - weigert sie sich sehr bald, sich für entfernte Gattungsziele verbrauchen zu lassen, und gibt den anhaltenden, allgemeinen und verzückten Huldigungen der Männer weitaus den Vorzug vor dem Martyrium der Mutterschaft. Man hat wichtigtuerisch vom >Jahr- hundert des Kindes< gesprochen. Welch ein Widersinn! Es ist das Jahrhundert des Weibes <.« 12
Politisch wenig liberal ist Nordaus Polemik gegen die zu milde Strafrechtspflege in Frankreich. Er ist seit je überzeugt von seines Freundes Lombroso Theorie vom >geborenen Verbrechen, welche die Erblichkeit von verbrecherischen Anlagen und Instinkten behauptet. 13 Ist die Anlage zu Verbrechen erblich, ist Milde gegenüber den Verbrechern unangebracht. Einer falschen Milde sei bei den französischen Intellektuellen durch die Rezeption von entarteten russischen Literaten wie Dostojevski, Tolstoi und Gogol mit deren Romantisierung des Verbrechens ideologisch vorgearbeitet worden. »Man verliebte sich in die Pennbrüder und Landstreicher. Man hatte unerschöpfliche Schätze von Zärtlichkeit und Erbarmen für Dirnen und Zuhälter. Man schwamm und tauchte in Kaschemmen- und Nachtasylpoesie .« 14
Nun werde die Polizei der Verbrechen nicht mehr Herr. Noch nicht einmal die Todesstrafe, erregt sich Nordau, werde mehr vollstreckt! 15 Der echt moderne Verbrecher sei indessen nicht mehr einer der alten Gewalttäter und Straßenräuber: »Modern ist ein Schwindler, der wie Rochette Banken gründet, Politiker zweier Staaten als ihre Auf Sichtsräte gewinnt, an mehreren Börsen operiert, Dutzende Millionen in kaum ebensovielen Monaten ergaunert (...). Hier vereinigen sich kluge Benützung aller Leichtig-
12 NFPv. 27.8.1909
13 Vgl. Cesare Lombroso, L’Uomo delinquente, Turin 1876 (Der Verbrecher, übers, v. M. O. Fraenkel, 3 Bde., Hamburg 1894ff.).
14 NFPv.22.3.1912
15 Ebd.; in dieser Äußerung ein generelles Plädoyer Nordaus für die Todesstrafe zu sehen, wäre m. E. eine Überinterpretation.