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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Die Feuilletons in der Neuen Freien Presse

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keiten des heutigen Kapitalsmechanismus, größte Gewinnchan­cen und geringste Gefahr .« 16

Nicht wenige der Feuilletons Nordaus gelten den jeweils neue­sten Aufführungen der Pariser Boulevardtheater. Und deren Lieb­lingsthemen sind Liebelei und Ehebruch. Für Nordau ist der Be­such dieser Theater anscheinend lästig und langweilig, er bewegt ihn jedoch zu einer klugen historischen Betrachtung der Wechsel in der Auffassung von Liebe zwischen dem 18. und dem 20. Jahr­hundert, einer Betrachtung, die manche Einsicht von Denis de Rougemonts Lamour et loccident (1938) oder Niklas Luhmanns Liebe als Passion (1982) vorwegnimmt und die Romantisierung der Liebe ironisiert.

»Das kommt daher, daß das Wort [Liebe] eine plumpe Ge­samtbezeichnung für tausend ganz verschiedene Seelenzustände ist. Die Sprache ist der Entwicklung des Gefühls nicht gefolgt, das sich aus bestialischen Anfängen zu feinster Veredelung er­hob und fast unabsehbar differenzierte. (...)

Man muß es dem französischen Rokoko nachsagen: es hat die Ehrlichkeit oder die Eleganz gehabt, mindestens zwei Kategorien im ewigen Grundgefühl alles Lebenden sprachlich zu unter­scheiden. Die elementare Wahlverwandschaft, die bis in die tieff- sten Wurzeln der Persönlichkeit hinabdringt und diese ganz aus­füllt, nannte es Passion, Leidenschaft, die angenehme Erregung dagegen, die nicht über die Epidermis hinausreicht, Bagatelle, Tändelei. Man braucht nicht daran zu zweifeln, daß es auch im Jahrhundert Ludwigs XV. Männer und Frauen gab, die der Pas­sion fähig waren. Aber es ist nicht zu leugnen: es zog die Baga­telle vor. Es wollte grundsätzlich die Liebe nur unter dem An­blick der Tändelei sehen. (...) Die Rokokomenschen banden Amors Pfeile mit Rosengewinden an den Köcher fest. Keine un­vorsichtige Schießerei! Sie wollten Lust, kein Leid, keine Wun­den. (...)

Erst das neunzehnte Jahrhundert bekehrte sich zur Religion Werthers. Die Romantik verwarf die Tändelei und errichtete der Leidenschaft Altäre, auf denen Menschenopfer dargebracht wur­den. Die Liebe hörte auf, eine fete champetre zu sein und wurde

16 NFP v. 7.5.1912