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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wien, Paris, Madrid, London, Paris

ein Verhängnis. (...) Vielleicht entfernte die Romantik sich doch etwas weit von der Wahrheit. Oder sie verallgemeinerte pathe­tisch den Fall der Wenigen. (...)

Das zwanzigste Jahrhundert ist in diesem Punkte wie in vielen anderen Dingen eklektisch. Oder genauer: es differenziert. Es bil­det Spezialisten der vergeistigten, allgewaltigen Liebe und des erotischen Epikuräismus, solche, die auf Andacht, und solche, die auf Kurzweil ausgehen, Kasuisten der Leidenschaft und Di­lettanten der Bagatelle. Die gute Gesellschaft ist ausgesprochen Rokoko ; sie will in der Liebe wieder nur das Vaudeville, das Schäferspiel, nicht das Drama, nicht die Tragödie sehen. Wie aber, wenn unter den fröhlichen Phäaken ein Wesen auftritt, das der stillschweigende Vertrag nicht bindet und das mitten in die allgemeine Bagatelle die Passion einführt ?« 17

Ähnlich langweilig wie der Besuch der eintönigen Ehebruchs- Boulevardstücke kann für Nordau sonst nur der Besuch der Salons gewesen sein, auf denen in jeder Saison die jeweils neuesten Ge­mälde präsentiert wurden.

»Der Weg durch die 43 Säle, von denen manche groß sind wie die Hauptschiffe von Kathedralen, die meisten weitläufig wie Museumsgalerien, nur wenige von der maßvollen Geräumigkeit des Kabinetts eines Sammlers, dann den äußeren Gang mit sei­nen einspringenden Winkeln und Kehren entlang und schließ­lich durch die endlosen Hallen des Erdgeschosses gleicht einer Wüstenwanderung durch lebensarme, einförmige Weiten, selten von einer Oase unterbrochen, manchmal vom unheimlichen Spuk der Kimmung beunruhigt. Kilometerlang reiht sich Bild an Bild, von jedem Format, von jeder Technik, die begünstigten auf dem Karnies, die geopferten einen Rang, zwei Ränge über ihnen, beinahe außerhalb des Sehbereichs, und wenn man alles gewis­senhaft betrachtet hat und daran geht, die empfangenen Ein­drücke zu ordnen, richtet sich im Bewußtsein eine Vorfrage auf: >Wozu wurde all das gemalt?< Ich finde keine Antwort. (...)

Das Öde, das Trostlose an neun Zehnteln dieser Werke ist ge­rade, daß aus ihnen kein Gefühl, kein Gedanke, kein tiefes Wohlgefallen an einem Anblick, keine Seelenregung spricht. Fast

17 NFP v. 26.11.1912