Die Feuilletons in der Neuen Freien Presse
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alles ist glatt, gefällig und flau. Es hat keine Fehler, über die man lachen oder sich ärgern kann, und keine Vorzüge, die die Aufmerksamkeit wachrütteln. (...) All das ist wie gemaltes Tischgespräch über das Wetter und die Sommerreisepläne zwischen wohlerzogenen Menschen; tadellos und tödlich langweilig. Die Kunst, wie sie sich in diesen Massengräbern totgeborener Werke offenbart, ist die unverantwortlichste Kraftvergeudung der gesitteten oder halbgesitteten Menschheit. Sie vergiftet das Leben der Künstler ohne Beruf, indem sie krankhafte Eitelkeit großzieht und einen Ehrgeiz unterhält, der zu den bittersten Enttäuschungen verurteilt ist; sie zeugt Neid, Tücke, Bosheit und niedrige Kriecherei; und sie verlegt den echten Talenten die Laufbahn wie die Wasserpest, die in Flüssen und Kanälen das Fahrwasser unwegsam macht .« 18
Die Avantgarde-Maler, die diesem langweiligen Akademismus entgehen wollen, ärgern Nordau wenigstens noch, auch wenn er ihre Tricks zu durchschauen meint: Sie leben von der Überraschung und der Provokation, nicht von der Könnerschaft . 19
»Die frechen Herausforderungen der Schwindler, die erbärmlichen Schmierereien der Schwachsinnigen machen keine Wirkung mehr; sie erregen nicht länger Ärgernis; man beachtet sie nicht; man bemerkt kaum ihre Anwesenheit. Die Besucher des Großen Palastes gehen an ihnen vorüber und würdigen sie keines Blickes (...). Kubismus, Futurismus, Orphismus, Expressionismus wecken einmal, bei ihrem ersten Erscheinen, Gelächter und Empörung. Aber ihre Stoßkraft ist sofort erschöpft, wenn die Überraschung wegfällt. Sowie man an diese grotesken Anblicke gewöhnt, sowie man auf sie vorbereitet ist, scheinen sie nicht einmal mehr lächerlich, sondern nur noch langweilig, wie eine abgehetzte Schnurre, wie ein verrauchter, schal gewordener Spaß .« 20
Noch für die Größten unter den avantgardistischen Malern sei-
18 NFPv. 24.5.1913
19 Ähnlich George Orwell über Salvador Dali; vgl. George Orwell, »Zu Nutz und Frommen der Geistlichkeit. Einige Bemerkungen über Salvador Dali« ( Benefit of Clergy, 1944), in: ders., Rache ist sauer. Ausgewählte Essays 11, Zürich 1975, S.39-52.
20 NFPv. 2.12.1913