Epilog
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Raum zur Hagiographie. Im Rückblick wirkt Nordau selten liebenswürdig oder humorvoll. Die öffentliche Rolle Nordaus wirkt oft ins Private zurück. Im Gegenzug erklärt die eigene Lebensgeschichte, was Nordau wie so viele andere Männer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur unbeugsamen Rechthaberei, zur Eitelkeit, zur übertriebenen Selbstdarstellung veranlaßte und zum Familientyrannen, zum misogynen Verächter aller, auch seiner eigenen, wie das Klischee will, >weiblichen< oder >jüdischen< Weichheit, zur getriebenen, insgeheim oft mit sich unzufriedenen, gespaltenen, widersprüchlichen, sich in der Arbeit betäubenden Persönlichkeit machte, zu einem Mann, der auch Freunden gegenüber so gut wie nie die mühsam erworbene öffentliche Maske eines Präzeptors der europäischen Kultur abnahm.
Simcha Südfeld wurde nie ganz Max Nordau, Max Nordau konnte Simcha Südfeld nie ganz loswerden. Das hatte äußere Gründe im Antisemitismus, aber auch innere, emotionale und familiäre. Der Namenswechsel, der ein Identitätswechsel werden sollte, aber nicht wurde und werden konnte, kennzeichnet die Biographie von Nordau. Der Antisemitismus und die negativen Judenbilder in Gesellschaft und Staat verhinderten, daß der jüdische Intellektuelle Max Nordau je ohne Diskriminierung derjenige werden konnte, der er sein wollte. Das ist, zumal die antijüdischen Klischees in seine Selbstidentifizierung auch ungewollt und ex nega- tivo eingehen, ein ständiger innerer und zugleich äußerer Konflikt in Nordaus Biographie. Die vielfach gebrochene Identität macht das Faszinosum dieser in vielen Zügen schwierigen Persönlichkeit aus. Sie scheint mir indessen paradigmatisch für die Situation vieler jüdischer Intellektueller im Zeitalter der staatsbürgerlichen und religiösen Emanzipation der Juden, im Zeitalter auch des Rasse-Antisemitismus. Im durchaus wörtlichen Sinne leidet der Jude Max Nordau lebenslang an der bei Kierkegaard analysierten modernen Krankheit zum Tode, an der man nicht stirbt: ».. .verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen.« 85 Verzweifelt wollte er nicht mehr der Jude Simcha Südfeld sein; verzweifelt wollte er der deutsche Schriftsteller Max Nordau sein. Dar-
85 Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (1849), übers, v. E. Hirsch, Düsseldorf/ Köln 1954, S.8.