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Psychopathologie des Fin de siècle : der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau / Christoph Schulte
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Wien, Paris, Madrid, London, Paris

jene Selbstdenker, die zu schreiben verstehen und über die Beein­flussung der öffentlichen Meinung, nicht durch ein Amt, Macht und Anerkennung gewinnen. Ein Schimpfwort, das die Dreyfu- sards sofort positiv wendeten und für sich reklamierten. Nordau war einer der ersten »Intellektuellen« Europas, die tatsächlich so bezeichnet wurden, und unter ihnen war er einer der mächtigsten und bekanntesten.

Aber Intellektueller wurde er nicht freiwillig. Er wäre gern ein Pester oder Wiener Medizinprofessor geworden, später gern ein deutscher Schriftsteller und Bühnenautor in Berlin. Das wurde, ge­nau wie sein von ihm gewollter Exodus aus dem Judesein, durch den Antisemitismus unmöglich gemacht. Statt dessen wurde Nordau Journalist und Kulturkritiker, ein Beobachter und Mittler zwischen akademischen, künstlerischen und politischen Diskur­sen, Persönlichkeiten und Welten; ein Intellektueller in Paris, der bedeutendsten Kulturmetropole des Fin de siede. In dieser Funk­tion fanden sein Ehrgeiz, seine intellektuelle Streitsucht, sein Stre­ben nach internationaler Anerkennung, nach Wohlstand und einer gutbürgerlichen Existenz Erfüllung. Der Jude aus Pest wurde wider Willen zum polyglotten, kosmopolitischen Pariser Intellektuellen mit europäischem Renommee. Später hat er sich in diese Rolle ge­funden, er hat sie gefüllt und auch genossen. Auch als Zionist, als er nicht mehr einsamer Intellektueller, sondern Führerfigur in einer politischen Bewegung war und öffentlich für deren Ziele einstand, hat er diese Rolle weiter gespielt. Er ist auch in der zionistischen Bewegung nie ein Amtsinhaber und Apparatschik geworden, sein Verhältnis zum Staat, zu Institutionen und Macht war, trotz aller verbalen Gewaltsamkeit, ein gebrochenes. Wir können nur darüber spekulieren, wie er sich verändert hätte, wenn er in Pest Ordinarius für medizinische Anthropologie oder in Berlin deutscher Schrift­steller darwinistischen Glaubens oder im Judenstaat Präsident der Akademie der Wissenschaften geworden wäre. Faszinierend ist, daß Max Nordau wegen seiner Vielseitigkeit in all diesen Positio­nen vorstellbar ist, aber daß der Rock des Pariser Intellektuellen ihm am besten sitzt.

Die hier präsentierten biographischen Details ebenso wie die Analyse der ungeheuer zahlreichen schriftlichen, veröffentlichten und unveröffentlichten Äußerungen Nordaus lassen nicht viel