Brahm auch der Figur Lenes an: «Aus dieser Umgebung erst [der Demi- mondeschaft in Hankeis Ablage] tritt Lenes Bild leuchtend hervor. Die anmutige Gestalt gewinnt unsere herzliche Sympathie, ohne daß der Dichter in irgendeinem Punkte beschönigt oder nur idealisierte. Wo ein Alexander Dumas etwa mit Edelmut und bengalischem Licht arbeiten würde, da darf Fontanes gut realistische Kunst es wagen, die Dinge in ihrem wahren Schein zu zeigen, ohne Sentimentalität und Tugendflitter, weil es ihr dennoch gelingt, alles in das Reich echter Poesie überzuführen.» Am Schluß der Studie versucht Brahm ein Gesamturteil zu finden; er nimmt den Roman als realistisches Kunstwerk, freilich nicht ohne noch einmal seinen Zweifel an der für ihn ausgemachten Grundthese «Ehe ist Ordnung» anzumelden: «Die besten Reize dieses Romans sind wie die Reize der märkischen Landschaft: sie drängen sich nicht auf, sie wollen gesucht sein; hat man sie aber einmal erkannt, so halten sie mit ihren stillen, tiefen Schönheiten sicherer fest als die pomphaften Knalleffekte der .großen* Landschaft. In der Tat, hier ist, wenn auch durch ein Temperament gesehen, Natur. - Und darum begrüßen wir Fontanes Werk mit aufrichtiger Freude und wünschen, daß es wacker Schule mache für den immer umfangreicher sich ausprägenden .Berliner Roman*, Schule mache in seiner realistischen Kunst, nicht in seiner Tendenz. Denn ob man nun von rechts komme oder von links, ob man predige: Ehe ist Ordnung oder: Ehe ist Liebe - ein jeder, der soviel Kraft und Tiefe, soviel reifes Können und modernes Wollen mitbringt, soll willkommen sein. L’art pour l’art.»
In diesen letzten Sätzen wird die Bemühung Brahms sichtbar, Fontane in der Nähe Zolas und des deutschen Naturalismus anzusiedeln - trotz aller Differenzen im Theoretischen, wie sie sich Brahm darstellten. Gewiß freute sich Fontane darüber, von den Jungen auf den Schild gehoben zu werden, darüber hinaus verteidigte er den aufkommenden Naturalismus und dessen « Anspruch auf Existenz », aber er wollte und konnte auch, wie er beim Erscheinen von «Stine» am 2. Mai 1890 an Georg Friedlaender schrieb, «mit jüngeren Kräften auf diesem Gebiete nicht länger konkurrieren». So wird ihm wohl Conrad Albertis Auffassung, die «Irrungen, Wirrungen » als naturalistisches Werk deklariert, mit Recht als zweifelhafte Ehrung erschienen sein. Alberti schrieb 1889 in Heft 4 der Monatsschrift «Die Gesellschaft» in seinem Festblatt zum 70. Geburtstag Fontanes: «Auf keiner Seite ist irgendeine tiefere Empfindung im Spiele - sie hat schon vor ihm ein Verhältnis gehabt, er löst das Verhältnis, heiratet ein reiches, artiges, hübsches, dummes Ding, mit dem er ausgezeichnet lebt, und sie fühlt nicht das geringste Unglück, sondern verheiratet sich bald darauf mit einem Manne aus dem Volke, der sich" über das, was vor der Hochzeit lag, gern hinwegsetzt. Wie erbärmlich ist das alles, wie jämmerlich! Was für Dreckseelen diese ganze Misere, der nichts Großes begegnet! aber wie menschlich ist es! wie wahr!»