Gegenüber der Forsche Albertis fällt unter den Geburtstagsartikeln des Jahres 1889 besonders die scharfsinnige Analyse auf, die Maximilian Harden am 28. Dezember 1889 in der Wochenschrift «Die Nation» veröffentlichte. Zwar bezeichnet Harden den Dichter ebenfalls als Naturalisten, aber in einem ganz anderen Sinn: «Fontane ist - im universellen Sinne des Wortes - ein Naturalist! Freilich einer, den die Liebe, nicht die Galle - keine literarische Anatomie wird sie in ihm entdecken! - zum Allesverstehen geführt hat und zum Allesverzeihen; er glaubt ,an diese Welt trotz dieser Welt“...» Harden hat wohl als erster auf die gesellschaftskritischen Züge Fontanes hingewiesen, mit vorsichtig abgewogenen Worten, ohne nach Gründen zu suchen, aber mit genauer Beschreibung des Sachverhalts. Am Beispiel des Romans « Schach von Wuthenow » charakterisiert er Fontanes Mut, nach « peinlichen » Stoffen zu greifen, und kommentiert: «... auch der Dieb findet es peinlich, wenn man ihn beim Kragen nimmt.» Harden konstatiert das allmähliche Fortschreiten des Dichters zu immer aktuellerer Thematik: « Und so, gesellschaftskritisch gestimmt, aber mild und betrachtsam, schritt nun der Wanderer fort; wie er früher alte Burgen gesucht hatte und Gräber und Mauersprüche, so schaute er nun nach jungen Seelen aus und nach alten Originalen; sein Fortschreiten war noch immer ein Vorwärtsschreiten, und ganz plötzlich stand er mitten drin im allermodernsten Berliner Leben, zwischen schneidigen Reiteroffizieren und betulichen Gemüsezüchtern, mitten in den .Irrungen, Wirrungen“. Wieder sah er, was vor ihm kein Deutscher ge- sehn: das .Verhältnis“, nicht eine imitierte Flirtation oder eine Collage nach Daudetschem Muster, sondern wiederum etwas Neues: den typisch-berlinischen Herzensbund auf Zeit, der von den Sinnen geschlossen und vom Verstand gelöst wird in herzlicher Freundschaft. Von wilder Leidenschaft ist da freilich keine Spur; der märkische Junker ist schwerfällig, aber voll praktischen Sinnes; er weiß: eines schönen Tages heißt es Abschied nehmen und ein gutgemästetes Gänschen heimführen aus einem reichen Edelhof, denn ,Ehe ist Ordnung“. Und auch Lene Nimpsch, das gutgeartete Mädchen, weiß es nicht anders; sie ist weich und träumerisch-sinnlich, wie fast alle Frauen bei Fontane, aber sie ist auch vernünftig und lebensfroh; sie hat ihren Lieutenant von ganzem Herzen geliebt, uneigennützig und unorthographisch, und nie kann sie ihn vergessen; aber auch sie weiß es: ,Ehe ist Ordnung’, und so nimmt sie am Ende den wackeren Gideon, da ihr Botho in adliger Unerreichbarkeit entgleitet. Ganz leise scheint mir jedoch schon in diesem einzig gearteten Buch die Frage anzuklingen: Ist auch wirklich alles gut in unserer Gesellschaftswelt? Muß man ein prächtiges Geschöpfchen wirklich lassen aus Standes- und Standesamtsvorurteilen? Fontane ist konservativ, und mit einem kleinen Seufzer antwortet er: Es muß wohl so sein. Aber ich bin nicht sicher, daß er nicht eines Tages - meinetwegen mit achtzig Jahren - laut und deutlich, und am Ende gar in der Vossischen Zeitung, sagen wird: Nein.» Neben solch ahnender Erkenntnis der Bedeutung des Fontaneschen Schaf-
Heft
Sonderheft 2, Zur Entstehungs und Wirkungsgeschichte Fontanescher Romane
Seite
42
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