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Sonderheft 5, Theodor Fontane: Unveröffentlichte und unbekannte Gedichte Toaste und Verse 1838 bis 1896
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EINLEITUNG

Joachim Biener: Zum Wesen von Fontanes Lyrik

Thomas Mann schreibt 1906 im EssayBilse und ich:Es scheint gewiß, daß die Gabe der Erfindung, mag sie dichterisch sein, doch bei weitem nicht als Kriterium für den Beruf zum Dichter gelten kann. Mehr noch, es scheint, daß sie eine schlechthin untergeordnete Gabe ist, die von den Guten und Besten oft als schon verächtlich empfunden und jeden­falls ohne Kummer entbehrt wurde... Die Beseelung... da ist es, das schöne Wort. Es ist nicht die Gabe der Erfindung, die der Beseelung ist es, welche den Dichter macht. 1 Thomas Mann und Fontane verfüg­ten über die Gabe der Beseelung, ihre Verwandtschaft beruht nicht zuletzt gerade auf ihr, die bei Fontane vor allem in der Spätzeit auf- tritt, bei Thomas Mann schon in der Frühphase.

Was bedeutet sie nun, diese Gabe der Beseelung, was meint sie nicht? Das beseelende dichterische Verfahren ist abzugrenzen von der freien poetischen Erfindung, von der rein erfindenden und idealisierenden dichterischen Phantasie. Die Beseelung knüpft an vorhandenes, Vor­gefundenes Wirklichkeitsmaterial an, um es synthetisierend und typisie­rend zu vertiefen und abzurunden. Es ist die Verfahrensweise des relativ lebensähnlichen, wirklichkeitsandächtigen Realismus, der auch für pro­duktive Elemente des Naturalismus und Impressionismus offen ist 2 und dessen dichterische Werke den Leser oder Zuschauer tief anrühren.

Die vorgegebenes Material beseelende Schaffensweise empfiehlt sich besonders bei den großen welthaltigen objektiven literarischen Gattungen der Epik, ganz besonders des Romans, und des Dramas, während das Empfindungsgedicht und die hymnische Lyrik stärker von der dichte­rischen Verinnerlichung und Vision leben. Sie liegt ferner nahe bei nicht gerade titanischen schriftstellerischen Begabungen, bei denen die poe­tische Quelle eherdrippelt 3 statt mächtig strömt, wo Genie in hohem Maße auf Fleiß beruht.

Fontanes dichterisches Hauptvermögen ist aus den genannten beiden Gründen in der Tat diebeseelende Potenz, die er im Begriff der Verklärung zweifellos mitgemeint hat. Der Schaffensvorgang seiner Romane ist meist mit der intensiven dichterischen Beseelung anstoßend und auslösend wirkender Wirklichkeitsmaterialien identisch, die im Arbeitsprozeß unter hoher innerer Beteiligung vertieft und umgestaltet werden bis zur letzten künstlerischen Abrundung.

Dieses Verfahren der Beseelung prägt nun auch Fontanes Lyrik. Es ist klar, daß auf dieser bedächtigen Basis das unmittelbar Lyrische, das Empfindungsgedicht, und auch der hymnische Aufschwung aus Fontanes originären und originellen lyrischen Möglichkeiten ausscheiden. Er war sich darüber schon sehr früh klar 2 '. Um so größere Möglichkeiten boten sich ihm indessen bei der Ballade, beim Rallengedicht, bei der Wieder­gabe von Naturimpressionen, beim lyrischen Spruch und beim Gelegen-

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