EINLEITUNG
Joachim Biener: Zum Wesen von Fontanes Lyrik
Thomas Mann schreibt 1906 im Essay „Bilse und ich“: „Es scheint gewiß, daß die Gabe der Erfindung, mag sie dichterisch sein, doch bei weitem nicht als Kriterium für den Beruf zum Dichter gelten kann. Mehr noch, es scheint, daß sie eine schlechthin untergeordnete Gabe ist, die von den Guten und Besten oft als schon verächtlich empfunden und jedenfalls ohne Kummer entbehrt wurde... Die Beseelung... da ist es, das schöne Wort. Es ist nicht die Gabe der Erfindung, — die der Beseelung ist es, welche den Dichter macht.“ 1 Thomas Mann und Fontane verfügten über die Gabe der Beseelung, ihre Verwandtschaft beruht nicht zuletzt gerade auf ihr, die bei Fontane vor allem in der Spätzeit auf- tritt, bei Thomas Mann schon in der Frühphase.
Was bedeutet sie nun, diese Gabe der Beseelung, was meint sie nicht? Das beseelende dichterische Verfahren ist abzugrenzen von der freien poetischen Erfindung, von der rein erfindenden und idealisierenden dichterischen Phantasie. Die Beseelung knüpft an vorhandenes, Vorgefundenes Wirklichkeitsmaterial an, um es synthetisierend und typisierend zu vertiefen und abzurunden. Es ist die Verfahrensweise des relativ lebensähnlichen, wirklichkeitsandächtigen Realismus, der auch für produktive Elemente des Naturalismus und Impressionismus offen ist 2 und dessen dichterische Werke den Leser oder Zuschauer tief anrühren.
Die vorgegebenes Material beseelende Schaffensweise empfiehlt sich besonders bei den großen welthaltigen objektiven literarischen Gattungen der Epik, ganz besonders des Romans, und des Dramas, während das Empfindungsgedicht und die hymnische Lyrik stärker von der dichterischen Verinnerlichung und Vision leben. Sie liegt ferner nahe bei nicht gerade titanischen schriftstellerischen Begabungen, bei denen die poetische Quelle eher „drippelt“ 3 statt mächtig strömt, wo Genie in hohem Maße auf Fleiß beruht.
Fontanes dichterisches Hauptvermögen ist aus den genannten beiden Gründen in der Tat die „beseelende“ Potenz, die er im Begriff der „Verklärung“ zweifellos mitgemeint hat. Der Schaffensvorgang seiner Romane ist meist mit der intensiven dichterischen Beseelung anstoßend und auslösend wirkender Wirklichkeitsmaterialien identisch, die im Arbeitsprozeß unter hoher innerer Beteiligung vertieft und umgestaltet werden bis zur letzten künstlerischen Abrundung.
Dieses Verfahren der Beseelung prägt nun auch Fontanes Lyrik. Es ist klar, daß auf dieser bedächtigen Basis das unmittelbar Lyrische, das Empfindungsgedicht, und auch der hymnische Aufschwung aus Fontanes originären und originellen lyrischen Möglichkeiten ausscheiden. Er war sich darüber schon sehr früh klar 2 '. Um so größere Möglichkeiten boten sich ihm indessen bei der Ballade, beim Rallengedicht, bei der Wiedergabe von Naturimpressionen, beim lyrischen Spruch und beim Gelegen-
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