Henry H. H. Remak (Bloomington)
Der Weg zur Weltliteratur: Fontanes Bret-Harte-Entwurf
Erstveröffentlichung nach dem Manuskript
Dem Andenken Hans-Heinrich Reuters gewidmet
I
Obwohl das Phänomen Amerika schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts seinen Niederschlag in der deutschen Literatur findet — man denke besonders an die Erzählung von „Inkle und Yarico“ — und vor allem Goethe dem Amerikanischen aufgeschlossen gegenüber stand, blieb ein massiver Einfluß der amerikanischen Literatur auf die deutsche und auf das deutsche Lesepublikum, mit wenigen Ausnahmen, den Nachkriegsperioden des 20. Jahrhunderts Vorbehalten: 1919—1933, 1945 bis heute. Dazwischen liegt eine Periode, während der Zeugnisse der Befruchtung der deutschen Belletristik durch amerikanische Literatur gerade durch ihre Vereinzelheit Anspruch auf sorgfältige Erfassung erheben dürfen. Es handelt sich hier hauptsächlich um Cooper und Irving, die schon Goethe mit Aufmerksamkeit las, und dann, gegen die Jahrhundertmitte, um Harriet Beecher Stowes Uncle Tom’s Cabin. Vor 1870 waren Longfellow, Hawthorne, Poe, von Thoreau, Melville und Whitman ganz zu schweigen, in Deutschland nur in engen Kreisen bekannt. Gegen 1870 setzte sich ein Umschwung, wenngleich in bescheidenen Grenzen, durch: seine Urheber sind Louisa May Alcott, Mark Twain und Bret Harte. 1
Bret Harte, eigentlich Francis Brett Harte, war 1836 in Albany, New York geboren worden. Nach einem unsteten Familienleben verlor er im Alter von neun Jahren seinen Vater und wanderte mit seiner Schwester 1854 über Nicaragua nach San Franzisko (Oakland) aus, wohin sich seine Mutter wiederverheiratet hatte. In Kalifornien war sechs Jahre vorher Gold entdeckt worden, und der Goldrausch Nordkaliforniens befand sich in vollem Schwünge, als Bret Harte dort anlangte. Noch im Jahre seiner Ankunft verließ er das Haus, durchstreifte Nordkalifomien, wechselte häufig den Beruf (Goldgräber, Lehrer, Drucker, Zeitungsherausgeber, Journalist, vielleicht Drogist) 2 und versuchte sich seit etwa 1857 in Vers und Prosa. Als Redakteur der Zeitung The Northern Californian in der Stadt Union protestierte er im Februar 1860 mit großer Zivilcourage gegen das Massaker friedlich versammelter Indianer an der Humboldtbucht und mußte das Feld räumen. Er kehrte zurück nach San Franzisko, wo er sich bald als Verfasser von Skizzen, Essays und Erzählungen, und seit 1864 als Herausgeber des Californian einen Namen machte. 1868 übernahm er die Redaktion des Overland Monthly. Dort erschien noch im selben Jahr seine Erzählung „The Luck of Roaring Camp“. Diese Geschichte von kaum mehr als zehn Druckseiten machte ihn beinahe übernacht im ganzen Lande, besonders aber in Ostamerika, und sehr schnell auch in Europa berühmt. Weitere Erzählungen, die in kurzen Abständen im Overland Monthly erschienen, und die Verse „Plain Language from Truthful James“, bekannt
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