in die Nachbarländer. Von allen Richtungen der Windrose steigen die grausigen Zahlen, je mehr sie sich Sachsen nähern.
Der Redner suchte eine der Ursachen dieser beklagenswerten Erscheinung, welche hier die Statistik zu Tag gefördert hat, in der weicheren Seele des sächsischen Volks, welches nicht fähig zu sein scheint, ernstere Prüfungen zu ertragen. Von vielen Kennern der Landesverhältnisse wird dieser Grund für zutreffend gehalten. Gestatte man uns jedoch noch auf andere Tatsachen hinzuweisen, welche einigermaßen dazu dienen können, das in den obigen Zahlen verborgene Rätsel zu lösen. Die Ursachen der Krankheiten unserer Gesellschaft sind gar mannichfache und je nach dem Gesichtspunkt, welchen der Beobachter einnimmt, treten Symptome, welche die ein oder die andere dieser Ursachen erraten lassen, deutlicher hervor.
Es ist bekannt, daß in den Dörfern, welche sich eine unverdorbene bäuerliche Bevölkerung erhalten haben, der Selbstmord völlig unbekannt ist und von dem Volke aufs tiefste verabscheut wird. Zum Selbstmord greift überwiegend nur der von den physischen und geistigen Krankheiten der modernen Kultur gequälte, von den Leidenschaften durchwühlte, Religion und Sitte entfremdete Städter. Das unnatürliche Wachstum der Städte gehört aber zu den ungesundesten wirtschaftlichen Erscheinungen der Gegenwart. Wie zu Zeiten des sinkenden Römerreichs entvölkert sich das platte Land und eine erwerbgierige und zugleich genußsüchtige Bevölkerung sammelt sich in den Städten an. Während noch im vorigen Jahrhundert der Schwerpunkt unseres wirtschaftlichen Lebens, ja unseres gesamten Volkslebens auf dem Lande, beziehungsweise in den kleinen Städten ruhte, wo eine arbeitsame Bevölkerung sich nährte, wachsen die Großstädte mit ihren von der Hand in den Mund lebenden, gierig nach Gewinn und Genuß haschenden Bewohnern immer bedrohlicher heran. Das Königreich Sachsen ist das Land der großen Städte. Es zeigt daher die sittlichen Folgen der modernen Zusammenhäufung der Menschen in ihren äußersten Konsequenzen. Bei der Volkszählung des Jahres 1875 ergaben sich für Dresden 205 294, für Leipzig 135 491, für Chemnitz 82 162, für Zwickau 33 140, für Plauen 30 890 Seelen. Im ganzen zählt man 24 Städte mit über 8000 Bewohnern.
Die Veranlassungen des Selbstmordes, Folgen von Ausschweifungen, zerrüttete Vermögensumstände usw. sind vorzugsweise den Städten eigentümlich. Die Zahl der Selbstmorde in Sachsen fiel und wuchs in den letzten Jahren mit den Erregungen, von welchen die städtische, die industrielle und Handel treibende Bevölkerung ergriffen war. Zu den einflußreichsten, die Veranlassung zum Selbstmord in sich schließenden Beweggründe gehören Subsistenzmangel und zerrüttete Vermögens-Verhältnisse. In Zeiten sozialer Kalamitäten, nach furchtbaren ökonomischen Enttäuschungen, wächst die Zahl der Bankerotte. Die Veranlassungen zum Selbstmord sind daher in weit höherem Maße vorhanden. In der Tat sehen wir, wie nach dem »Krach« des Jahres 1875 und der darauf folgenden Handelskrise die Zahl der Konkurse zunimmt, und das Wachstum der Selbstmorde hält mit diesen Ziffern ungefähr gleichen Schritt. Die höchsten Zahlen treten nicht unmittelbar nach dem Jahre 1873 auf, sondern erst einige Jahre später. Es bewährt sich auch hier das physikalische Gesetz, daß das Maximum der Wirkung nicht mit dem Maximum der Kraftäußerung identisch ist, sondern um einiges später einzutreten pflegt.
Zahl der Konkurse: Zahl der Selbstmorde
1873
312
723
1874
306
723
187s
372
745
1876
438
98t
1877
602
1114
Diese Zahlen belehren über den Fluch, welcher der maßlosen Gier nach Erwerb, die hunderttausende von Menschen in den Städten zusammenführt, auf dem Fuße folgt. Es ist der Dämon der Goldgier, der, wie er in der Sage demjenigen, der in seine Bande gefallen,
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