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Sonderheft 1, Zeitbilder: Zwei Fragmente von Theodor Fontane "Sidonie von Borcke" und "Storch von Adebar"
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Gold gibt, das ihm unter den Händen zerrinnt und ihn zu toller Sinnenlust anstachelt, heute noch den armen hülflosen Menschen ergreift, ihm trügerisches Hexengold bietet, dessen Besitz er da mit seiner Gesundheit, dort mit seiner Ehre und dem Verlust von seiner Seelen Seligkeit erkaufen muß. Unmöglich können diese Zustände gesunde sein und sie fordern unwillkürlich dazu auf, unsern Blick einfacheren Verhältnissen und jener Periode Unserer Geschichte zuzuwenden, wo der Schwerpunkt unseres gesamten nationalen Lebens auf dem Lande lag. Ebenso schwer, wie die Pflichten, welche der Staat hinsichdich der materiellen Entwicklung seiner Bewohner übernimmt, wiegen diejenigen, welche ihm hin­sichtlich des sittlichen Gedeihens derselben obliegen. Eine einseitige Pflege der materiellen Interessen würde uns rasch da ankommen lassen, wo sich heute die großen Städte Amerikas befinden; die Zentren unserer deutschen Bildung würden zu Zufluchtsorten für den Ab­schaum der Menschheit werden. Eine Wirtschaftspolitik, die auch auf die Förderung des sittlichen Wohles des Volkes bedacht sein will, muß sich zur Aufgabe stellen, Mittel aus­findig zu machen, durch welche dem ungeheuren Wachstum unserer Städte ein Ziel gesetzt wird. Sie muß Maßregeln ergreifen, durch welche die Errichtung industrieller Etablisse­ments auf dem Lande begünstigt wird und welche dazu dienen, dem Landbewohner den Aufenthalt in der Stadt minder begehrenswert erscheinen zu lassen. Die Städte werden dann aufhören, der Sitz eines allen Agitationen zugänglichen, mit sich und seinem Schicksal hadernden, verzweifelten Proletariats zu sein, welches als eine ständige Bedrohung der Sicherheit des Staates erscheint.

Einen entschiedenen Gegensatz zu Sachsen bildet ein anderes Industrieland - Elsaß- Lothringen. Dort ist der Selbstmord verhältnismäßig selten. Ebensowenig haben dort die Agitationen unserer oder der französischen Sozial-Dcmokraten Eingang gefunden. Eine Ursache dieser Erscheinung erblicken wir darin, daß das Rcichsland jene großen Industrie­städte nicht besitzt, wie sie das Königreich Sachsen aufweist. Die Fabriken befinden sich vielfach in Dörfern und der Arbeiter lebt unter der bäuerlichen Bevölkerung. Bei den ein­facheren Zuständen der Landstädte und Dörfer steht er hier unter der Aufsicht aller. Et steht unter dem Einflüsse des Seelsorgers, dessen Wirksamkeit in den großen Städten allerwärts gehemmt ist, und wenn er auch zuweilen seinen Verdienst verschwendet, sinkt er doch selten so tief wie sein Genosse in den Städten. Viele suchen eine Ehre darin, sich Grundbesitz zu erwerben, und durch den festen Besitz, den sie ihr eigen nennen, gewinnen sie ein Interesse an der Erhaltung des Bestehenden. Das Streben ist in Deutschland darauf gerichtet, eine nationale Wirtschaftpolitik zu begründen. Möge man sich bei Lösung dieser Aufgabe auch darüber klar werden, welche Mission, im Gegensatz zur Städtebevölkerung, diejenige des Landes als Hüterin von Religion, guter Sitte, deutscher Ordnung und Zucht zu erfüllen hat.

- Prediger Vater an der Dorotheenstädtischen Kirche, der am Sonntag nach nahezu fünf­zigjähriger pastoraler Wirksamkeit von seiner Gemeinde Abschied nehmen wird, steht hinter einer hochgesegneten, überaus erfolgreichen Tätigkeit. Er ist der Sohn des nam­haften Professors der Theologie, J. S. Vater, der in Königsberg und Halle Kirchenge­schichte und Exegese las; als Kirchenhistoriker setzte er Henkes Kirchengeschichte fort, als Exeget des Alten Testaments - der alte Vater war auch ein gründlicher Kenner des Arabischen - fand er zuerst, daß der Pentateuch nicht von Moses geschrieben sein könne. Dies war eine bedeutende Leistung, die großes Aufsehen und in der wissenschaftlichen Welt zum Teil Entsetzen hervorrief. Die Forschungen de Wettes hatten die gleichen Resul­tate gehabt wie die Vaterschen, und erschreckt kam de Wette zu Griesebach mit der Klage: »Was fange ich nun an? Vater ist mir mit der Pentateuchfrage zuvorgekommen! Griesebach beruhigte seinen jüngeren Kollegen mit dem Rat, Vaters Forschungen zu er­weitern, was auch geschah. Als Professor Vater nach Halle kam, war er ein berühmter Ge­lehrter und keins der Auditorien war groß genug, um die Zuhörer unterzubringen; allein er hatte nicht die Gabe des Vortrags und bald sprach er vor spärlich besetzten Bänken. Schriftsteller blieb der alte Vater bis zu seinem Tode und er blieb ein Lieblings-Schrift­steller der theologischen Welt. In dieser gelehrten Atmosphäre wuchs der junge Vater,

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