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Sonderheft 3, Theodor Fontane: Reisen in Thüringen
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[Die Hauptkirche]

Eine kleine Thurm-Wendeltreppe hinauf, befindet man sich in einem Raum von 10 Schritt Länge und 6 Schritt Breite, 8 eine Ecke bildend so daß die 2 gothischen Fenster einen rechten Winkel bilden. Noch gothisch gewölbt und bemalt. Die 4 Evangelisten, drei in der Thier­gestalt, Mattheus als Figur aber geflügelt, allerhand Blumenwerk umrankt die Kappen und Gurte (??): Disteln, Lilien, Passionsblumen, dazu eine Menge alter Schildereien, wenigstens zehn, alle aus viel spätrer Zeit, alte Bücher 9 in Schweinsleder auch wohl später, ((Luthers Werke; aber auch andres.)) 10 drei 11 hochlehnige Stühle mit gepreßtem Leder (Lilien etc. 12 drauf), dito Tisch mit Blanknägel 13 angenagelter Lederdecke, ein andrer alter 14 Tisch etc. Wie viel daran luthersch, ist unsicher. Nur eine alte dreifußartige gußeiserne Kohlenpfanne gilt als aus der Luther­zeit. Nach der Kirche zu ein kleines lukenartiges durch eine Holz-Lade 15 geschlossenes Fenster. ((Wurde vom Küster leise geöffnet.)) (Durch das­selbe blickt man auf die Kanzel gegenüber und die ganze Kirche rechts und links.) Während ich da war, sang eine Morgen Gemeinde zugleich eine Armen-Gemeinde. Dann schwieg es und während ich mir Notizen machte, sprach die Stimme des Geistlichen den Segen. Ich schrieb nicht weiter. Dann erst trat ich hinan und blickt in die alte Kirche hinein. Unter demLutherstübchen befindet sich von gleicher Form und Größe die gothische Sakristei. Sie ist reich an Sehenswürdigkeiten, besonders an Abendmahlskelchen. Einer davon, ein Geschenk von Hanrat aus Fritzlar wie die Inschrift besagt, trägt einen Hahn als Wappen und die Jahreszahl 1504. Dieses Kelches soll sich Luther bei der Abendmahlsver- theilung bedient haben. Die andern Kelche sind später, mit Ausnahme eines kleinen, muthmaßlich 10 aus dem 15. Jahrhundert, der kein 17 andres Ornament zeigt, als am Fuß [folgt Skizze s. S. 41, Abb. 4] einen gekreu­zigten Christus aber ohne Kreuz. Dies macht einen eigentümlichen und bedeutenden Eindruck. Außerdem befindet sich hier eine lateinische Bibel, deren sich Luther beim Gottsdienst bedient haben soll. Sie liegt an einer eisernen Kette.

Dann wieder zu Herrn Wilisch. Er führt mich nun zwei Treppen hoch. Das Haus ist sehr interessant, aber alles aus spätrer Zeit. Die Luther­stube ist sehr interessant, dadurch daß sie Herr W. bewohnt und nicht ein bloßes Curiosum daraus macht, gewinnt sie. Es ist also das Zimmer in dem Luther wohnte oder dieArticul entwarf, daran ist nicht zu rütteln, das Gegentheil ist nicht zu beweisen. Aber das Zimmer ist es nicht mehr. Es ist ein angenehmes, wohnliches, modernes Zimmer mit einer interessanten Stuck-Decke, aber auch diese Stuck-Decke das einzige verbliebene Alte ist mindestens 100 Jahre später als die Luther­zeit. Es deckt sich vollständig mit der Außen-Inschrift. Man sieht deut­lich, daß das Haus um 1660 oder vielleicht noch später von einem sehr wohlhabenden Manne bewohnt gewesen ist oder vielleicht auch daß es von Staats wegen (Hessen) geschah der seine Ehre darin setzte, dies Lutherhaus, so recht Luther würdig zu machen. Aber die Formen die er dazu wählte, waren die Formen seiner Zeit. Er conservirte nicht

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