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Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
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und einem eingehenden Studium der damals herrschenden neuen philosophischen Systeme von Kant, Fichte, Hegel und Schelling war der Neophyt im höchsten Grade erstaunt, einen vollständig parallelen, durch seine Parallelität von jeder Berührung ausgeschlosseneil Bau philosophischer Ideen zu finden, die im sarma- tischen Urwalde noch vor Entwickelung der Modernen aufgeschossen waren, ohne daß, wie er selber gesteht, auch nur die Möglichkeit gegeben wäre, irgendwie gemeinschaftliche Berührungspunkte zwischen den Trägern beider in streng ent­gegengesetzter Richtung laufenden Systeme auch nur im Traume zu konstruiren.

Die eine Linie zeigt die Bewegung nach oben, die andere in den Abgrund; der Lauf ist vollkommen parallel.

Ein dritter Beobachter war d Moritz Heß , der Verfasser vonRom un Jerusalem". Derselbe schreibt:Zur Zeit, als Mendelssohn in Deutschland lebte, trat in Polen R. Israel Bal Schem auf. Er hatte so wenig wie Mendelssohn die Prätention, ein Sektenstifter zu sein. Wie trotzdem durch M. die Reformisten in Deutschland, so wurden durch R. Israel Bal Schem die Chaßidäer der slavischen Länder ins Leben gerufen. Der Chaßid ist dem Wortlaute nachein frommer Jude", ohne die Nebenbedeutung, die das WortPietist" im protestantischen Christenthum hat. Es gab zu allen Zeiten Chaßidim im Judenthume, wie es auch lange Zeit vor R. Israel sogenannte Bale Schem gab, d. s. Juden, die sich mit kabbalistischer Thaumatologie, mit der praktischen Kabbala befaßten und sehr

viel Gläubige fanden. - Wenn seit Mendelssohn der Rationalismus unter den

deutschen, seit R. Israel der Chaßidismus unter den slavischen Juden ernstliche Spaltungen hervorrief, so lag dies in den eigenthümlichen Verhältnissen einer Zeit, welche selbst in denjenigen Ländern, wo sie noch weniger zunm Bewußtsein des Volkes gekommen ist, sich doch von allen früheren Zeiten toto neuere unter­scheidet. Aehnlich den jüdischen Essäern in den letzten Zeiten des Alterthums, repräsentiren die Chaßidäer, im Gegensätze zur äußerlichen Werkheiligkeit eines in Formen erstarrten Buchstabenglaubens, die Verinnerlichung des jüdischen

Geistes. - Dabei sind sie nicht weniger als asketisch, halten jedoch strenge auf

Sittenreinheit. In dem Buche Tanja hat R. Samuel aus Wilna (ein Irrthum Heß'; soll heißen: R. Senior Salman aus Lodi) die philosophische Seite des Chaßidismus vom Gesichtspunkte der theorethischen Kabbala aus entwickelt. Die Schüler dieses Philosophen nennen sich Chabad (12N, Initiale der Worte NQ2N ND2, Weisheit, Vernunft, Erkenntniß). Auch in Jerusalem (namentlich in Hebron) sind sie vertreten. Sofern sich der Chaßidismus in Polen und Ungarn der Volksmasse bemächtigt hat, ist er begreiflich von rohen Auswüchsen und lächer­lichem Aberglauben nicht frei geblieben. Die Tageskritik, welche mit Recht diese Abirrung bekämpft, scheint jedoch das eigentliche Wesen und die historische Bedeutung des Chaßidismus gar nicht begriffen zu haben. Auch die Rabbinisten haben, gleich den Rationalisten, den Chaßidismus zu verketzern gesucht. Ihre Bannstrahlen sind jedoch, ebenso wie die der Rationalisten, ohnmächtig geblieben gegenüber einer Geistesrichtung, welche ein ebenso nothwendiges Produkt der Zeit als die Reform, und obgleich oder vielmehr weil unbewußt, von größerer Tragweite zu sein scheint.

Die Reform erfolgte erst, nachdem das moderne Leben das mittelalterliche Judenthum bereits untergraben, von seinem Lebensborn abgegraben hatte; sie konnte den von seiner Wurzel abgetrennten Stamm nur als Bauholz benutzen zur Ausschmückung ihrer, sonst wenig Jüdisches mehr bietenden Tempel. Der Chaßi­dismus dagegen bildet noch innerhalb des lebendigen jüdischen Geistes selber, der mehr instinktmäßig als bewußt von der modernen Zeit ergriffen wurde, den