Druckschrift 
Der Chaßidismus : eine kulturgeschichtliche Studie / von Verus
Entstehung
Seite
5
Einzelbild herunterladen

Uebergang aus dem mittelalterlichen Judenthum zu einem regenerirten, welches erst in der Entstehung begriffen ist; die Folgen des Chaßidismus sind unberechen­bar, wenn sich die nationale Bewegung seiner bemächtigt. In den großen jüdischen Zentren des Ostens gewinnt er täglich mehr Terrain. Die Rabbinisten, die ihn früher verketzert hatten, fangen an einzugestehen, daß heute für die jüdische Volksmasse des Ostens nur die Alternative übrig bleibt, entweder in Folge einer von außen eindringenden modernen Kultur mit den Reformisten vom Judenthum abzufallen oder diesem Abfälle durch eine Regeneration zuvorzukommen, von welcher der Chaßidismus freilich (???) nur ein Vorläufer ist.

Obgleich ohne soziale Organisation, leben die Chaßidim insofern so­zialistisch, als dem Armen das Haus des Reichen stets geöffnet ist und er hier, wie in seinem eigenen, schalten kann. Mit dem Ausspruche in Aboth 5, 10:Das Meinige ist das Deinige, ohne daß ich das Deinige begehre" haben die Chaßidim Ernst gemacht. Einer Sekte (???), die solcher Begeisterung fähig ist, muß doch noch etwas Anderes als Rohheit und Unwissenheit zu Grunde liegen."

Das ist denn doch eine andere Sprache als sie Graetz führt. Es wäre besser gewesen, wenn er die seiner Zeit letzte Phase der jüdischen Geschichte ebenso ignorirt hätte wie die erste. Er hat beim Uebergang über den Jordan angefangen und hätte bei der Weichsel stehen bleiben sollen. Wir werden noch Gelegenheit haben, auf seine mehr als eigenartige Behandlung des Themas zurückzukommen.

Ursprung und Geschichte des Chaßidismus.

R. Israel Balschemtow wurde um 1690 in dem polnischen Städtchen Kitow (Kutty) am Czermoz, dem Grenzfluß der damals türkischen Bukowina, geboren, woselbst noch heute das Grab seiner Mutter sich befindet. Von seinem Vater Elieser weiß man nur, daß er in hohem Alter, bald nach der Geburt seines Sohnes, starb. Dar frühzeitig verwaiste Knabe brachte sich als sogenannterBehelfer", der die Kinder ins Cheder und nach Hause führt, durch. Im Jünglingsalter heirathete er die ebenfalls verwaiste Schwester des bedeu­tenden Rabbiners Abraham Gerschon Kitower, der in dem Responsenwechsel des berühmten Nodah bijehuda (R. Jecheskel Landau-Prag) als Autorität auftritt, ohne dessen Einwilligung, da der junge, kräftige Mann in seinem ärmlichen Lein­wandkittel viel häufiger die wilde Einsamkeit des Beskidengebirges mit seinen Bärenhöhlen und Wolfschluchten, als das Bethamidrasch aufsuchte. Als er die Schwester wegen dieser Mesalliance zur Rede stellte, erklärte sie, daß ihr Aus­erwählter zwar kein Lamdan, aber ein äußerst gottesfürchtiger Mensch sei. So gab er widerstrebend seine Einwilligung und war dann später einer der Ersten, die sich vor der geistigen Ueberlegenheit des R. Israel beugten. Bis zu seinem 36. Lebensjahre verbrachte er seine Tage in der unzugänglichen Einsamkeit des Gebirges. Sonntags früh pflegte er seinen Rucksack mit Brot mitzunehmen, und wenn er ihn am Freitag Nachmittag unberührt nach Hause brachte, so wußte er, daß er die Woche gefastet habe, wie das damals und noch nicht vor ganz langer Zeit eine Vielen geläufige Fastenübung war. Er brachte stundenlang im Gebete zu, und die Huzulen, die ihre Schafe auf den Almen weideten, wollten gesehen haben, wie dieselben sich bei der Schmone Eßreh um ihn sammelten, an ihm emporsprangen, als übte er eine Anziehungskraft auf sie aus. Mit vollendetem 36. Lebensjahre zog er in die Stadt und nahm eine Stelle als Schächter an. Für das Schächten führte er eine wichtige Aenderung durch kunstgerechtes Schleifen des Schächtmessers ein, die sogenannte Ukrainer TstNVN. Da das Schächtmesser scharf und glatt sein muß, ohne die mindeste, fast mikroskopische Scharte, so der-